"Es ist mehr als Zeit, dass die Regierung die Wahrheit sagt und den ökologischen Notstand ausruft."

Es sind nur knapp über null Grad, als die ersten Aktivist*innen gegen vier Uhr morgens an der Siegessäule in Berlin ankommen. Als die Sonne aufgeht, sind es bereits um die 1.000 Menschen, die sich rund um den Hauptverkehrsknotenpunkt versammeln und die Straßen blockieren. Die Aktivist*innen sind Teil der Umweltbewegung Extinction Rebellion, der Rebellion gegen das Aussterben. Ab Montag wollen sie eine Woche lang Berlin blockieren – oder zumindest den Alltag stören, wo es nur geht. Nicht nur an der Siegessäule, auch am Potsdamer Platz und am Kemperplatz wird blockiert. In London, Paris, Madrid, Amsterdam, New York, Buenos Aires sowie in Sydney sind ebenfalls Aktionen geplant oder bereits im Gange.

Zur symbolträchtigen Uhrzeit fünf Minuten nach zwölf Uhr sprach Carola Rackete, ehemalige Kapitänin des Seenotrettungsschiffs Sea Watch 3, an der Siegessäule. "Obwohl viele Menschen in Deutschland die Tragweite der heranrollenden Katastrophe mittlerweile verstanden haben und am 20. September 1,4 Millionen Menschen in Deutschland mehr Klimaschutz gefordert haben", so Rackete, "hat die Bundesregierung ein Klimapaket verabschiedet, was nicht im Entferntesten den Anforderungen von Paris entspricht und uns zum Ende des Jahrhunderts zu dem Trend von drei bis fünf Grad Erderwärmung bringt. Es ist mehr als Zeit, dass die Regierung die Wahrheit sagt und den ökologischen Notstand ausruft."

Was ist Extinction Rebellion?

Extinction Rebellion, kurz XR, gilt als die radikalere Schwester der Fridays-for-Future-Bewegung. Den XR-Aktivist*innen reicht es nicht, nur gegen die mangelnde Klimapolitik der Bundesregierung zu demonstrieren – sie wollen durch zivilen Ungehorsam zum Beispiel in Form von Blockaden Druck auf die Politik ausüben. "Die politische Lage wird dabei zur Rechtfertigung mit einem Brand gleichgesetzt", schreibt ZEIT-Kollegin Laura Cwiertnia. "Menschen sind in ein Haus eingesperrt. Um sie vor den Flammen zu retten, darf man nicht zögern und muss vielleicht sogar etwas kaputt machen." Die Aktivist*innen von Extinction Rebellion hätten sich zu den Feuerlöscher*innen des Weltklimas erklärt.

Die Forderungen der Bewegung sind sehr offen formuliert: Die Bundesregierung soll den Klimanotstand ausrufen und alles revidieren, was der Bewältigung der Klimakrise entgegenlaufe. Sie soll die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen bis 2025 auf Null senken, das Artensterben stoppen und den ökologischen Raubbau eindämmen. Und eine Bürger*innenversammlung soll einberufen werden, welche die notwendigen Maßnahmen festlegt. Wie die Forderungen umgesetzt werden sollen, wird nicht genauer ausgeführt.

Unterstützt wird die Bewegung von vielen Prominenten: In einem offenen Brief solidarisierten sich unter anderem Christian Ulmen, Bjarne Mädel und Fahri Yardim, der Regisseur René Pollesch, der Musiker Bela B, die Autoren Marc-Uwe Kling und Rocko Schamoni und der Kabarettist Bodo Wartke mit Extinction Rebellion. In einem Interview mit der SZ sagte der Jerk-Darsteller Fahri Yardim: "Hochwasser verhindert man nicht, indem man Lichterketten bastelt".

Extinction Rebellion gründete sich im Oktober 2018 in Großbritannien, in Deutschland soll es inzwischen mehr als 100 Ortsgruppen geben. Bei einer der bislang medienwirksamsten Aktionen besprühten XR-Aktivist*innen das britische Finanzministerium mit 1.800 Litern künstlichem Blut. Das dazugehörige Banner trug die Aufschrift: "Hören Sie auf, den Klimatod zu finanzieren." Vordenker ist der britische Umweltaktivist Roger Hallam.

Was werfen Kritiker*innen Extinction Rebellion vor?

Extinction Rebellion wird nicht nur von vielen Konservativen und Liberalen sondern auch Teilen der linken Szene kritisiert und abgelehnt. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass sich die Bewegung als offen für alle bezeichnet – unabhängig der politischen Selbstverortung. XR versteht sich nicht als linke, sondern als Umweltbewegung. Linke Aktivist*innen werfen XR vor, sich nicht ausreichend von Rechts, Sexismus oder Rassismus abzugrenzen. Auf ihrer deutschen Webseite ergänzt XR, dass "diskriminierendes Verhalten, Sprache und Verhalten, dass rassische Dominanz, Sexismus, Antisemitismus, Islamophobie, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit, Klassendiskriminierung, Altersvorurteil und alle anderen Formen der Unterdrückung" nicht geduldet würden.

Einer der wichtigsten Grundsätze von Extinction Rebellion ist Gewaltfreiheit. Bedeutet: Auch bei einer Straßenblockade, die von Polizist*innen aufgelöst wird, soll es nicht zu Gewalt kommen. Im Gegenteil: Die XR-Aktivist*innen fallen teils durch extreme Freundlichkeit gegenüber Polizist*innen auf. "Police we love you, we are doing this for your children, too", riefen Aktivist*innen der Londoner Polizei zu. Kritiker*innen werfen der Bewegung vor, damit das strukturelle Problem von Polizeigewalt zu ignorieren und zu staatshörig zu sein – und demzufolge nicht in die Kategorie des zivilen Ungehorsams zu passen.

Auch Roger Hallam steht in der Kritik. In einem Interview mit dem Spiegel behauptete er, das Umweltthema sei größer als die Demokratie. "Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant. Dann kann es nur noch direkte Aktionen geben, um das zu stoppen", so Hallam. Viele Politiker*innen von Grünen über SPD bis FDP kritisierten diese Haltung.