Zwei Männer stehen auf dem Dach der Londoner U-Bahn an der Haltestelle Canning Town, zwischen sich halten sie ein ausgerolltes Transparent: "Business as usual = Death". Ihnen gegenüber stehen Hunderte Menschen auf dem Bahngleis, die darauf warten, zur Arbeit zu fahren. An einer weiteren Haltestellen kapert eine fünfköpfige Gruppe einen Zug, ein 83-Jähriger klebt sich mit der Hand an die Wagentür. Die Aktivist*innen gehören zu Extinction Rebellion, der Bewegung, die seit April diesen Jahres weltweit Verkehrsknotenpunkte blockiert und mit Sitzstreiks Straßen lahmlegt, um auf "die existenzielle Bedrohung der ökologischen Krise" aufmerksam zu machen.

Am Morgen des 17. Oktobers haben es die Londoner Aktivist*innen allerdings nicht darauf abgesehen, den Verkehr von Autos und Bussen zu stören. Ihr Versuch, den öffentlichen Nahverkehr zum Erliegen zu bringen, trifft bei der Menge auf dem Gleis auf wenig Verständnis. Die Aktivist*innen werden beschimpft und mit Abfall beworfen. Als sie sich weigern, vom Dach der U-Bahn zu klettern, kommt es zu Handgreiflichkeiten: Die wütenden Fahrgäste ziehen einen der Männer vom Dach, schlagen und treten auf ihn ein. Selbst als der Mann am Boden liegt, lassen sie nicht von ihm ab.

Bewegung ohne klassenpolitisches Verständnis?

Die Bilder dieser kollektiven Wut sind brutal und angsteinflößend – und die Gewalt gegen die Demonstrant*innen ist abzulehnen. Wie konnte es dazu kommen?

Extinction Rebellion hatte die Aktionen am Dienstag angekündigt und das Personal der öffentlichen Verkehrsmittel informiert. In einem Statement nach der Blockade erklärten sie, dass nur eine kleine Gruppe in der internationalen Bewegung für die Bahnblockade verantwortlich sei: "Um es kurz zu sagen: Nur sehr wenige Leute bei XR wollten, dass das passiert". Die Größe der Gruppe mache es jedoch unmöglich, über alle Aktionen demokratisch zu entscheiden. Unabhängig davon seien die Bilder der Übergriffe erschütternd. Man entschuldige sich bei den Menschen, die an Extinction Rebellion glaubten und sich durch die Reaktionen hilflos und ungehört fühlten. Für beide Seiten sei es wichtig, das bigger picture nicht aus den Augen zu verlieren.

Das bigger picture für Extinction Rebellion: Die Wirtschaft stören, um so Druck auf die Regierung auszuüben. Durch die Blockade der U-Bahn sollten Menschen auf ihrem Arbeitsweg ins Bankenviertel im Osten Londons gestört werden. Doch Individuen dafür zu bestrafen, dass sie einen bestimmten Arbeitsweg haben, überträgt den politischen Druck auf Einzelpersonen – und entlastet diejenigen, denen die Bewegung laut eigenen Angaben eigentlich schaden will.

Der Druck wird auf Individuen übertragen

Der Anspruch des zivilen Ungehorsams kann in einer kapitalistischen Gesellschaft, die in großen Teilen auf prekären Arbeitsverhältnissen fußt, nicht ungefragt auf andere übertragen werden. Wer kritisiert, dass Menschen gegen die Blockade der öffentlichen, umweltfreundlichen Verkehrsmittel sind, ignoriert in seinem*ihrem Aktivismus den Einfluss von Klasse. Wer beispielsweise für Mindestlohn oder in einem befristeten Verhältnis arbeitet, ist darauf angewiesen, zur Arbeit zu erscheinen. Es geht nicht darum, dass diese Menschen kein Interesse daran haben, gegen Klimapolitik oder das System zu rebellieren. Aber von ihnen zu erwarten, dass sie ihre Existenz gefährden, schließt Geringverdiener*innen und Versorger*innen vom Protest aus.

Extinction-Rebellion-Begründer Roger Hallam verfolgt die Idee, dass sich eine kritische Masse für eine Idee einsetzen müsse, um Strukturen zu verändern. Er geht von 3,5 Prozent der Bevölkerung aus, die sich dafür der Bewegung anschließen müssten. Aktionen wie die Besetzung der Londoner U-Bahn schaffen keine Gemeinschaft. Vielmehr zeigen sie, dass den Aktivist*innen viele Mittel recht sind, solange sie damit mediale Aufmerksamkeit erzeugen.

"If they want less disruption, they must act"

Für die Menschen hinter den Londoner Protesten scheinen die Bedürfnisse der Menschen, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, als Kollateralschaden hinnehmbar zu sein. Die Bewegung, die sich immer wieder auf Ghandi beruft, sieht Selbstaufopferung als Weg zum Ziel. Nur zur Erinnerung und Einordnung: Ghandi propagierte den Grundsatz, Gewalt zu jeder Zeit mit Gewaltlosigkeit zu begegnen und kritisierte 1938 auch die "Unfähigkeit" deutscher Jüd*innen, den Verbrechen der Nazionalsozialist*innen mit gewaltfreiem Protest zu begegnen.

Extinction Rebellion nimmt in Kauf, dass Menschen durch ihre Aktionen verschreckt werden könnten. Letztendlich sei das Teil ihres Plans, um zum Handeln zu bewegen: "If they want less disruption, they must act." Gleichzeitig gab XR in einem Statement zu, dass die Blockade der Bahn kein sinnvoller Protest gewesen sei. Man sei sich bewusst, dass die Störung an der Canning Station vor allem diejenigen traf, die bereits unter den Strapazen eines toxischen Systems leiden – und diejenigen, die von den Auswirkungen der Klimakrise und des ökologischen Zusammenbruchs besonders stark betroffen seien.

Durch Aktionen, die von einer kleinen Gruppe von Aktivist*innen durchgeführt werden, schadet Extinction Rebellion der Bewegung, die sich gerne als Ergänzung zu Fridays for Future positioniert. Schulstreiks arbeiten zwar auch mit zivilem Ungehorsam, konzentrieren sich aber darauf, Druck auf die Politik aufzubauen. Durch den Aufruf zur Selbstaufopferung grenzt sich Extinction Rebellion davon ab und individualisiert den Protest.

Politischer Protest muss nicht freundlich und nett sein. Erst wo er radikal wird, beginnt er zu wirken. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, wer gestört werden sollte: Konzerne und Politiker*innen.