Die Sonne über Florida glitzert in den zerbrochenen Scheiben eines alten Aquariums. Noch einige Sekunden zuvor war das Glas heil, bis es von der Kugel einer pinkfarbenen Neun-Millimeter-Glock durchschlagen wurde, abgefeuert von der 24-jährigen Ashley*. Im Hintergrund nickt ihr Vater anerkennend: "That’s my girl!" Ihr jüngerer Bruder ist gerade 17 Jahre alt geworden und damit beschäftigt, sein Weltkriegsgewehr von der Ladefläche des Pickups zu holen.

Die US-amerikanische Familie verbringt hier eine nette Zeit zusammen. Alle, außer der Mutter. Sie hält von den Ausflügen mit Waffe nichts und bittet mich, ihr eine SMS zu schreiben, wenn die Schießerei vorbei ist. Ich nehme aus Neugier an dem Ausflug teil. Obwohl ich seit vielen Jahren mit der Familie befreundet bin und ich um die Waffenliebe des Familienvaters weiß, hat Martin* noch nie vorgeschlagen, zusammen schießen zu gehen. Es ist das erste Mal. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen.

Mein Verhältnis zum Schießen ist durch meine deutsche Herkunft geprägt. In meiner Heimat im Sauerland fiebert man jährlich dem Schützenfest entgegen. Ich selbst schieße hin und wieder auf der Kirmes auf ein paar Rosen, verliere aber relativ schnell das Interesse daran. Und schon nach wenigen Schüssen mit Martin und den Kindern stelle ich fest: Es ist ein meilenweiter Unterschied, ob man bei einem Schützenfest oder in der Familie Schießübungen vornimmt. Das Verhältnis zu Schusswaffen ist in den USA ein anderes als bei uns und an diesem Spätnachmittag im April wird mir das allzu bewusst.

Genug Munition für ein Massaker

Der Schießstand liegt im Hinterhof der Baufirma, für die Martin arbeitet. Er besteht aus einem Dreckhügel, der als Kugelfang dient. Als Ziele dienen alte Fässer, an denen Zombieplakate hängen, das Aquarium und einige leere Gaskartuschen, die durch Gasrückstände einen lauten Knall erzeugen, wenn wir sie treffen.

Auf der Ladefläche des Pickups reihen sich ein gutes Dutzend Waffen aneinander. Pistolen verschiedener Kaliber, eine Maschinenpistole und auch eine halbautomatische Version des Sturmgewehrs, das der Amokläufer von Parkland nutzte. Hinzu kommt, in meinen Augen, genügend Munition, um ein Massaker zu veranstalten. Die Familie lagert den Großteil des Arsenals zu Hause in einem Schrank, der für alle zugänglich ist. Kleinere Pistolen sind aber auch in Griffweite im Haus versteckt. Für den Notfall.

Martins 17-jähriger Sohn Tom* hat die Waffen von zu Hause mitgebracht. Martin strahlt, er freut sich, seinem deutschen Besuch seine Schmuckstücke zeigen zu können. "Die Waffen wollen benutzt werden", sagt er. "Erst dann sind sie glücklich."

"Kommen jetzt die Cops?"

Das Überangebot an Waffen verängstigt mich. Ich drücke Schutzbrille und Ohrenschützer an mich und halte mich hinter dem Pickup – aus Angst, es würde sich eine Kugel lösen und mich treffen. Martin versucht, mir die Angst zu nehmen. Er winkt mich zu dem improvisierten Schießstand und erklärt mir, wie ich eine der kleinen Pistolen halten muss. Dann deutet er auf den Kopf eines Plakatzombies. "Ziel darauf", sagt er. Ich blicke den Zombie an, der Zombie blickt zurück. Selbst dieses Ziel sieht zu menschlich aus, also konzentriere ich mich auf ein anderes. Ich feuere schnell drei Schüsse ab, der Rückstoß ist überraschend schwach. Trotzdem gebe ich Martin die Waffe schnell zurück. Er lacht. "Das Magazin ist ja noch fast voll", sagt er. "Warum schießt du nicht weiter?"

Während ich wieder hinter dem Pickup in Deckung gehe, verfeuern Martin, Ashley und Tom ihre Munition. Plötzlich fährt ein weißer Prius auf das Gelände. Martin blickt kurz rüber, vermutet eine*n der Arbeiter*innen und widmet sich wieder der pinken Glock, die seit ein paar Wochen unter einer Ladehemmung leidet.

Der Fahrer des Prius beobachtet die Situation, steigt aber nicht aus. "Merkwürdig." Martin entscheidet, hinüberzulaufen. Er steckt die Pistole locker in den Hosenbund und schlendert zu dem offenen Fahrerfenster. Es stellt sich heraus, dass der Fahrer des Wagens Lehrer einer benachbarten High School ist. Die Schüler*innen hätten Angst bekommen, als sie die vielen Schüsse hörten.

Martin hat kein Verständnis dafür. Lautstark erinnert er den Lehrer daran, dass er sich auf Privatbesitz befindet. Beide drohen damit, die Polizei zu rufen. Schließlich fährt der Lehrer weg, Martin kommt zu uns zurück, er ist sichtlich wütend. "Wir tun hier nichts Illegales, aber er ist auf Privatgelände gefahren!" Ich frage ihn, ob die Cops jetzt kämen. "Ach was, ein paar von denen kommen selber öfter vorbei und wir schießen ein bisschen zusammen."

"Wir sind in Amerika und das ist ein freies Land!"

Ich bin eingeschüchtert von der Diskussion, die den Waffenkonflikt, den ich bisher nur aus den Nachrichten kannte, in meine Freizeit geholt hat. Ich kann den Lehrer verstehen. Es ist etwas anderes, ob man bei einer Kirmes auf Rosen feuert, oder mit den Kindern einen Ausflug zum Schießen macht. Schießen als Familienaktivität kommt mir seltsam vor.

Und mit der Ansicht bin ich nicht allein, denn als am Vortag die Pläne geschmiedet werden, hält sich Mutter Mary* raus. Sie mag die Waffen im Haus nicht und hat Angst vor Unfällen. Schließlich berichten auch US-amerikanische Medien von Unfällen mit Schusswaffen im Alltag. Martin nimmt sie seitlich in den Arm und sagt grinsend: "Mom mag die Waffen nicht, aber sie mag mich!" Mary schweigt, denn sie kennt die Zwickmühle: Der Waffenbesitz ist legal. Und sie kann Martin seine Leidenschaft nicht ausreden.

Florida ist bekannt für seine liberalen Waffengesetze. Zwar wurde nach dem Amoklauf an der High School in Parkland das Mindestalter zum Kauf von Waffen von 18 auf 21 Jahre hochgesetzt, die Schusswaffen gibt es aber noch immer in jedem Walmart zu kaufen, wenn auch mit drei Tagen Wartefrist, um Affekthandlungen zu vermeiden.

Die Waffenlobby NRA hat bereits eine Klage eingereicht, da sie in der Alterseinschränkung einen Verstoß gegen den Zweiten Verfassungszusatz zum Recht auf Waffenbesitz sieht. Und laut Martin sei das richtig: "Sie können versuchen, uns unsere Waffen wegzunehmen, aber das werden sie nicht schaffen. Wir sind in Amerika und das ist ein freies Land!"

People kill people, not guns

Ich frage Martin, ob er die Waffen jemals gebraucht hätte. Wirklich gebraucht hätte. "Noch nicht", antwortet er, "aber du weißt nie, wann die ‚bad guys‘ kommen und dann muss ich doch in der Lage sein, meine Familie zu beschützen." Ich erzähle ihm, dass das deutsche Gesetz den Besitz von Waffen zur Selbstverteidigung verbietet und ich auch niemanden kenne, der*die eine Schusswaffe für andere Zwecke besitze.

Martin schüttelt den Kopf. Dieser Gedanke ist für ihn unvorstellbar. "Wie beschützt du dich im Notfall?" Ich habe mich noch nie in einer Situation befunden, in der ich mir eine Waffe gewünscht hätte und erzähle Martin, dass ich die Polizei rufen würde. Er schnaubt nur. Mary möchte sich eine Situation, in der ihre Tochter tatsächlich ihre Glock benutzen könnte, nicht vorstellen. "Ich bin froh, dass sie ihren großen Hund hat. Der kann das Haus beschützen," sagt sie mit einem milden Lächeln.

In den USA gab es laut der Non-Profit-Organisation Gun Violence Archive im vergangenen Jahr 61.653 Tote durch Unfälle oder Angriffe. In diesem Jahr sind es schon mehr als 19.000. Ich frage Martin, was er über die Zahlen denkt. Ob sie ihn nicht daran zweifeln lassen, dass es eine gute Idee ist, Waffen zu Hause zu lagern. Martin hat einfache Einstellung zu den Statistiken: "They are fake!"

In der Situation habe ich mich hilflos gefühlt, gefangen zwischen dem Respekt vor einer fremden Kultur und meiner eigenen Haltung zum Gebrauch von Schusswaffen, die von der Angst der Schüler*innen gespiegelt wurde. Martin ist Familienvater, der nach seinem Verständnis bestmöglich die Familie schützt. Und er versteht sich als stolzer Amerikaner, der sich auf sein historisches Recht auf Waffenbesitz beruft. Mir wird noch einmal deutlich: Die Befürworter*innen von Waffen davon zu überzeugen, dass der Besitz keine gute Idee ist, wird ein Kraftakt werden.

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.