Schon in der Schule gab es immer diesen einen Jungen, der sich lieber zum Lesen in die Ecke verzog, wenn die anderen Fußball spielten. Oder das Mädchen, das sich hinter ihrem Lieblingsbuch versteckte, statt mit den coolen Cliquen die erste Zigarette zu probieren. Dabei sind es diese scheinbaren Außenseiter, die den anderen einiges voraushaben werden.

Denn in fremde Fantasiewelten einzutauchen, bringt erwiesenermaßen viele Vorteile mit sich. In der Psychologie beschreibt beispielsweise die so genannte Theorie of Mind die Fähigkeit, Wünsche und Ansichten anderer Menschen nachzuvollziehen – und zu verstehen, dass sich diese von den eigenen unterscheiden können. Es ist die Fähigkeit, sich in jemand anderen hineinzuversetzen und sich dessen Emotionen anzunehmen. Eine Studie im Science Magazine aus dem Jahr 2013 zeigt, dass das Lesen fiktionaler Literatur eben diese Fähigkeit verbessern würde.

Nicht nur das: Ein belesener Geist kann darüber hinaus zum Abbau von Vorurteilen führen oder diese erst gar nicht aufkommen lassen. Warum das so ist, weiß Stefan Stürmer, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Hagen und Sprecher der deutschen Gesellschaft für Psychologie.

"Der kognitive Prozess, der durch Lesen und die Charakterdarstellung anderer Personen angesprochen wird, ist die so genannte Perspektivenübernahme. Sie wiederum fördert emotionale Prozesse, die uns mit der dargestellten Person mitfühlen lässt. Wir empfinden quasi parallel mit", sagt Stürmer.

Sind wir erst mal in die Perspektive dieser Person geschlüpft und emotional investiert, nehmen wir auch häufiger charakterliche Ähnlichkeiten zu dieser Person wahr – oder machen uns zumindest eher auf die Suche danach. Damit sind wir ihr gegenüber positiv eingestellt und negative Einstellungen treten zurück. Laut Stürmer funktioniere das auch, wenn dem oder der Leser*in die Person im Buch befremdlich ist – zum Beispiel, weil sie einer anderen ethnischen Gruppe angehört oder eine andere sexuelle Orientierung hat. "Über den Prozess der Ähnlichkeitswahrnehmung verlieren wir die Angst vor dem anderen. Einfach, weil wir sie so wahrnehmen, wie wir selbst sind."

Aus der fiktiven Welt rein ins echte Leben

Sicher ist es schön, wenn wir einen anfangs befremdlichen, fiktiven Charakter in einem Buch lernen zu mögen. Viel wichtiger ist doch aber die Frage, inwieweit sich das tatsächlich auf konkrete Einstellungen im Alltag auswirkt. Lernen wir Personen derselben Gruppe wie im Buch schließlich auch im wahren Leben zu mögen? Anders gefragt: Können wir das Gelernte auf die Realität ummünzen und auf andere Gruppen generalisieren?

Die sozialpsychologischen Forschungsliteratur beantwortet dieses Frage indirekt – im wahrsten Sinne des Wortes. Während Vorurteile sehr wohl durch direkten Kontakt mit Personen anderer Kulturen abgebaut werden können, braucht es bei fiktionaler Literatur einen Zwischenschritt. Denn Lesen ist eine spezielle Form des Kontakts. In der Fachsprache nennt man ihn parasozialen Kontakt, da er nur indirekt über ein anderes Medium (das Buch) stattfindet.

"Die Kontaktforschung zeigt, dass es zu einer Generalisierung auf reale Kontaktsituationen kommen kann. Allerdings sind diese Effekte meistens schwächer als beim direkten Kontakt", sagt Stefan Stürmer. Das heißt: Wenn wir beispielsweise im wahren Leben eine Muslima kennenlernen und sie sympathisch finden, dann ist laut Stürmer wahrscheinlicher, dass wir Muslime insgesamt sympathisch finden. Beim Lesen funktioniert das genauso, nur eben ein wenig flüchtiger. Dasselbe Konzept wird übrigens auch in der Verhaltenstherapie, beispielsweise bei der Desensibilisierung von Phobien, angewendet.

Damit Autor*innen das mit ihren Geschichten schaffen, müssen sie beim Schreiben ihres Buches allerdings ein kleines Dilemma lösen. Einerseits muss die Person, deren Perspektive wir Leser*innen übernehmen sollen, genügend Anknüpfungspunkte haben. Eine gewisse Basis an Ähnlichkeiten muss sein. Merkmale, die so allgemein menschlich sind, dass wir trotz einer fremderscheinenden Zugehörigkeit irgendetwas erkennen, das wir mit dieser Person teilen.

Andererseits muss diese Person auch hinreichend (stereo-)typisch von uns wahrgenommen werden, zumindest anfangs. Der oder die Autor*in muss sie für uns so beschreiben, dass wir sie eindeutig einer befremdlichen Gruppe zuordnen können. Erst dann können Vorurteile gegenüber der entsprechenden Gruppe insgesamt aufgelöst werden.

Die Leserschaft austricksen

Viele Autor*innen lösen dieses Dilemma, indem sie die Gruppenzugehörigkeit der Figur am Anfang ihrer Geschichte noch gar nicht bekannt machen. Sie geben uns erst Zeit, um genügend Sympathie für sie zu entwickeln. Irgendwann später, wenn wir uns bereits mit der Person identifizieren, erfahren wir von ihrer Gruppenzugehörigkeit. Das mag uns anfangs dann vielleicht fremd sein, aber wir hängen ja bereits an ihr. Wir sind emotional mit ihr verbunden. "Nehmen wir einen Charakter allerdings nicht als typisch für eine bestimmte Personengruppe wahr, kommt es in der Regel auch nicht zur Generalisierung", sagt Stürmer. Dann würden wir sie eher als Ausnahme von der Regeln behandeln, als atypischen Einzelfall.

In William Faulkners Roman "Licht im August" (1932) wird unter anderem die Geschichte von Joe Christmas erzählt. Ein Waisenkind in den Südstaaten der USA, dessen Herkunft für lange Strecken im Buch unklar bleibt. Christmas selbst glaubt zwar, schwarze Vorfahren zu haben, fühlt sich aber keiner Gemeinschaft richtig zugehörig. Bevor die Leser*innen erfahren, woher er wirklich kommt, lernen sie ihn lieben. Erst spät im Buch wird klar, dass Christmas tatsächlich dunkelhäutige Vorfahren hat. "Es entsteht eine Voridentifikation", sagt der Sozialpsychologe. Das wäre bei Büchern, in denen es um soziale Klassen und Rassentrennung geht, häufig.

Genau wie bei Faulkners Buch, funktioniert der Wechsel der Gruppenzugehörigkeiten auch oft darüber, dass wir die Person erstmal als Kind kennenlernen. "Das Kind ist eine Kategorie, mit der jeder Mensch üblicherweise eine Beziehung aufbauen kann", erklärt Stürmer. "In der Literatur wird das psychologisch geschickt angewendet, damit sich der Leser zunächst mit der Person identifizieren kann. Später erfährt man, dass dieses Kind einer bestimmten, für den Leser fremden Personengruppe angehört.Es erfolgt ein Wechsel der Gruppenzugehörigkeit."

Gute Autor*innen wissen das. Sie sind Beobachter*innen der menschlichen Natur und in diesem Sinne den Psycholog*innen ähnlich. Sie wissen um das Potenzial, die Menschen anzusprechen. Dementsprechend taktisch legen sie ihre Figuren an. "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe und "Wer die Nachtigall stört" von Harper Lee sind Beispiele für diese Kategorie.

Warum fiktiv?

Bei Sachbüchern gibt die Realität die Art und Weise vor, wie und ob wir uns mit der Person im Buch identifizieren können. Sie lässt im Gegensatz zu fiktionaler Literatur nur kleine Handlungsspielräume zu. Wäre in Faulkners Roman gleich zu Beginn ein Bild der Figur Christmas als schwarzer Südstaaten-Amerikaner zu sehen, hätte er bereits einen Teil der Leserschaft verloren. Nämlich diejenigen, für die es überhaupt nicht infrage kommt, sich in so eine Person hineinzuversetzen.

Planen Autor*innen gezielt, mit ihren Büchern Vorurteile abzubauen, dann müssen sie sich auch bemühen, möglichst viele Leute – und gerade die, die Vorurteile haben – anzusprechen und in die Geschichte einzubeziehen. Solche Leser*innen brauchen einen subtilen Einstieg, man muss sie quasi austricksen.

Das geht mit einer fiktiven Geschichte besser. Denn die Autor*innen haben mehr Möglichkeiten, die eingangs erwähnten Prozesse (Perspektivenübernahme, Mitfühlen, Erkennen von Ähnlichkeiten) aktiv psychologisch zu gestalten. Nicht-fiktive Geschichten, wie beispielsweise Dokumentationen, erreichen die Leserschaft, oder sie erreichen sie nicht. Der oder die Autor*in muss sich ja schließlich an die Realität halten.

Könnt ihr gute Bücher empfehlen, die in irgendeiner Art und Weise euren Horizont erweitert haben? Falls ja, schickt mir gerne eine Mail und erzählt mir, warum.