Die Schüchternen ließen sich zu Hause ablichten und erlaubten einen Blick in ihre persönliche Wohnlandschaft. Die Mutigeren gingen nach draußen, auf einen einsamen Parkplatz, in den Wald oder an eine andere Stelle, wo sie sich unbeobachtet fühlten. Die ganz Unerschrockenen stellten sich mitten in das Getümmel einer Einkaufsstraße oder legten sich vor eine voll besetzte Bushaltestelle. Für sein Fotoprojekt Daily Portrait Brno-Bratislava-Budapest-Vienna lichtete Fotograf Martin Gabriel Pavel 365 Menschen in ihren Heimatstädten ab – nackt. In der Öffentlichkeit achtete er immer darauf, dass keine Kinder in der Nähe waren, bevor sich die Modelle auszogen.

Die Teilnehmer*innen durften sich aussuchen, wo sie fotografiert werden wollen – sie nehmen die Betrachter*innen mit auf eine Tour durch ihre Städte. Sie zeigen architektonische Besonderheiten, die zum Beispiel den kaiserlichen Charme von Wien oder den postkommunistischen Charakter von Bratislava einfangen. Allerdings werde es immer schwieriger, alte Gebäude zu finden. "Historische Orte in den Städten müssen immer öfter modernen Bürokomplexen weichen", sagt der 32-jährige Künstler. Er nennt es ein "steriles, künstliches, unmenschliches Umfeld", das sich nach Feierabend in eine Geisterstadt verwandle.

Steril, künstlich und unmenschlich nennt Pavel auch das heutige Schönheitsideal der Menschen. Laut ihm würden nur perfekte Körper, so wie wir sie in der Werbung oder auf Instagram vorgezeigt bekämen, heutzutage als schön gelten. Er wollte daher die Menschen auf seinen Fotos ohne Kleidung zeigen – mit all ihren vermeintlichen Unvollkommenheiten. Auf diese Weise wolle er anderen Menschen das Selbstbewusstsein geben, zu ihrem eigenen Körper zu stehen.

Ängstliches Wien, kompliziertes Budapest

Egal, ob innerhalb der eigenen vier Wände oder in der Öffentlichkeit – es bedarf einer guten Portion Mut, sich nackt fotografieren zu lassen. Das merkte Pavel bei seiner Suche nach Teilnehmer*innen selbst. "Am schwierigsten war die Suche in Wien", erinnert er sich. Die Wiener*innen bezeichnet er als die Ängstlichen im Vergleich zu den Bewohner*innen der anderen Städte.

Budapest war die Stadt, in der es am kompliziertesten war, Fotoshootings zu organisieren. Unzählige Male sagten Teilnehmer*innen im letzten Moment ab oder hörten auf zu antworten. "Ich hatte teilweise Gespräche über Messenger-Dienste, die aus mehr als 100 Nachrichten bestanden. In keinem anderen Land ist das in einem solchen Ausmaß geschehen", sagt der Fotograf aus Krumau an der Moldau in Tschechien.

"Budapest ist eine magische Stadt. Die alten majestätischen, teilweise heruntergekommenen Gebäude lassen Budapest wie eine Filmkulisse aus einem dystopischen Film aussehen." Pavel selbst hat sich nackt in Budapest fotografieren lassen – und zwar vor einem Graffito, das den Premierminister von Ungarn, Viktor Orbán, kritisieren soll. Es wurde bereits 14 Mal übermalt, bis die Stadtregierung eine Überwachungskamera installieren ließ.

Zu Zwischenfällen kam es bei den Fotoshootings in der Öffentlichkeit nur selten, sagt Pavel. Einmal spazierte während des Fotografierens einer nackten Frau in Bratislava ein Pärchen vorbei. "Der Mann hatte anscheinend einen Moment zu lange zugeschaut, denn seine Partnerin verpasste ihm eine Ohrfeige." Nur einmal, ebenfalls in Bratislava, musste er ein Shooting abbrechen, weil die Polizei sonst Anzeige erstattet hätte. In Brünn hingegen streckte ihm ein vorbeifahrender Polizist die Hand entgegen und formte einen Daumen hoch.

Heimat ist nicht gleich Geburtsort

Pavel habe sich für die vier Städte entschieden, weil sie für ihn seine Heimat repräsentieren. In Tschechien geboren und aufgewachsen, hat er auch bereits in der Slowakei, Ungarn und in Österreich gelebt. Außerdem teilen sich diese Länder, mit einigen anderen, die gemeinsame Geschichte der Habsburgermonarchie. "Um mein eigenes Land zu verstehen, musste ich auch die anderen Länder in der Region und ihre Bewohner kennenlernen", sagt er.

Seine jetzige Freundin lernte er bei einem der Fotoshootings für seine nackte Porträtserie kennen. Sie leben heute gemeinsam mit ihren zwei Katzen in Hronow, einer kleinen Stadt in Tschechien. Der Fotograf plant nun, einen Bildband mit den geschossenen Fotos mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne zu veröffentlichen.