Die Veränderung trat augenblicklich ein. Kaum hatte J. die offizielle Metamorphose von meiner Affäre zu meinem festen Freund durchlaufen, war unsere Beziehung eine völlig andere. Und das, obwohl sich an den äußeren Umständen unseres Verhältnisses nichts geändert hatte: Weder verbrachten wir mehr Zeit miteinander noch flüsterten wir uns zärtlichere Dinge zu – mehr Luft nach oben war in dieser Hinsicht sowieso nicht mehr drin.

Es waren meine Erwartungen, die von null ("Lass mal schauen, wie es sich so entwickelt") auf hundert ("Eine Beziehung bedeutet absolute Verbindlichkeit") schossen. Plötzlich kränkte es mich, dass er seinen Urlaub lieber allein als mit mir verbringen wollte. Wenn er einen Abend seine schmachtenden Gute-Nacht-Nachrichten ausließ. Oder er unser Date absagte, um sich mit jemand anderem zu treffen. Dinge, die vorher überhaupt keine Rolle gespielt hatten, wurden nun so lange durchgekaut, bis uns beiden zum Erbrechen zumute war. "Dann haben wir eben wieder eine Affäre", entschied ich schließlich. "Und was soll das konkret ändern?", fragte J. – "Nichts", antwortete ich. "Bis auf unsere Anforderungen aneinander."

Denn die sind für jede Beziehungsform klar definiert: Meine Affäre ist mir nichts schuldig, mein Freund hingegen alles. Meine besten Freund*innen muss ich immer anrufen dürfen, wenn mir zum Heulen zumute ist, ich darf aber nicht auf sie stehen, denn dann ist die Freundschaft schon bald vorbei. Mit meinem Kollegen sollte ich nichts anfangen, denn das erschwert die Zusammenarbeit. Und wenn Schluss ist zwischen zwei Menschen, dann können sie einander unmöglich Freund*innen sein, sondern sollten sich erst mal aus dem Weg gehen.

Was ist schon richtig?

Klar, solche ungeschriebenen Regeln machen das Leben leichter. Jede*r kennt den Platz, der ihr*ihm in der betreffenden Konstellation zusteht und weiß, was sie*er bekommen kann. Und wenn nicht geliefert wird, dann muss man die Beziehung eben downgraden. Aus der besten Freundin wird flugs eine Bekannte dritten Grades. Aus der*dem Seelenverwandten jemand, wegen dem man die Straßenseite wechselt. Und aus dem Fickfreund ein Niemand. Dass es auch anders ginge, kommt uns oft gar nicht erst in den Sinn. Wir sind schließlich enttäuscht, weil unsere Erwartungen nicht erfüllt wurden und gewiss auch verletzt.

Auch unser Hang, über abweichende Beziehungsmodelle zu urteilen, gehört zu unserer Regelkonformität. Zweckehe? Gefühlskalt. Polyamorie? Abartig. Friends with benefits? Kann nicht gut gehen. Paare, die nicht zusammenziehen? Merkwürdig. Menschen, die es anders machen, als wir es gewohnt sind, sind uns unheimlich. Denn sie stellen all das infrage, was wir als gegeben, vielleicht sogar als moralisch richtig erachten.

Aber was ist schon "richtig"? Hätte ich nicht mit einer meiner Freundinnen geschlafen, wüsste ich nicht, wie viel Spaß ich mit Frauen im Bett haben kann. Hätte ich den Tinder-Typ nach unserem ernüchternden Sexversuch aus meinem Adressbuch gelöscht, würden wir uns jetzt nicht mehr so schön zusammen betrinken und wegen unserer neuen Liebeleien rumheulen. Und hätte nicht eine Bekannte meinen Ex klargemacht, hätte ich ihm noch ewig nachgehangen. Das alles und noch viel mehr gute Dinge wären in meinem Leben nicht passiert, hätten ich und andere uns daran orientiert, was in den jeweiligen Situationen angebracht gewesen wäre.

Hätte ich nicht mit einer meiner Freundinnen geschlafen, wüsste ich nicht, wie viel Spaß ich mit Frauen im Bett haben kann.

Dabei entspringen diese Regeln in den meisten Fällen aus kollektiven Mythen, die wir uns über zwischenmenschliche Beziehungen erzählen. Wir halten nicht nur an ihnen fest, weil sie uns Sicherheit geben, sondern auch, weil manche von ihnen mit realitätsfernen Glücksversprechen aufgeladen sind. AMEFI (Alles mit einem für immer) ist dafür das beste Beispiel, ebenso die Idee von der allereinzigen BFF. Wir können noch so oft mit diesen Vorstellungen auf die Fresse fallen – wir suchen einfach weiter. Irgendwann wird die*der Richtige schon noch kommen. Dabei sollten wir uns lieber fragen, ob wir wirklich nach diesen Spielregeln spielen wollen. Ob es uns ums Prinzip geht. Oder ob wir eigentlich etwas ganz anderes wollen.

Unsere Beziehung – unsere Regeln

Nachdem ich also J. aus lauter Verzweiflung wieder zu einer Affäre degradiert und etwas Abstand gewonnen hatte, fing ich an, nachzudenken. Wollte ich denn jeden verdammten Abend eine halbe Stunde für Rumgesülze und Kuss-Smileys draufgehen lassen? Immerhin warteten drei Eins-a-Romane neben meinem Lesesessel. Wollte ich denn wirklich mein soziales Leben auf Eis legen? Schließlich gab es da einen Haufen großartiger Menschen, die ich seinetwegen absolut vernachlässigt hatte. Und wollte ich wirklich meinen heiß ersehnten Porto-Trip canceln, nur um mit J. verreisen zu können? Irgendetwas in mir fand, ich sollte das alles wollen. Aber tatsächlich wollte ich nichts davon.

Und als ich das verstand, wurde mir klar, dass es völlig egal ist, ob J. nun meine Affäre ist oder meine Liebesbeziehung oder nur ein Freund. Weil es nichts an unserer Zuneigung zueinander ändert. Oder daran, dass wir miteinander Zeit verbringen und einen Haufen Sauereien machen wollen. Nein, das hier ist keine Nicht-Beziehung. Es ist eine Daueraffärenfickromanzenbeziehungsfreundschaft. Und sie hat ganz eigene Spielregeln. Nämlich unsere.

Außerdem auf ze.tt: Was passiert, wenn man sich in einer offenen Beziehung in jemand anderen verliebt?