Wenn sich der Mensch einmal wo niedergelassen hat, bleibt oft kein Platz mehr für die Natur. Bäume müssen für ein neues Parkhaus weichen. Grünflächen werden betoniert, um dort Wohnhäuser zu errichten. Angesiedelten Tieren wird der Wohnraum entzogen, sie müssen sich einen neuen Unterschlupf suchen. Der Mensch an der Spitze der Nahrungskette hat sich im Laufe der Artengeschichte das Vorrecht eingeholt, über Lebensräume zu bestimmen.

Dass menschliche Präsenz auf Kosten der Tiere geht, ist oft richtig – aber nicht ausschließlich. Tiere sind anpassungsfähig. Sie lernen dazu, sie sind Problemlöser und Konfliktmanager. Über Generationen hinweg schaffen sie es, neue Strategien, Techniken und Taktiken zu entwickeln und mit widrigen Umständen umzugehen. Ein Muss, schließlich geht es um ihr Überleben und den Fortbestand ihrer Art. Selbst eine Großstadt, also im amtlichen Sinne eine Stadt mit mehr als 100.000 Einwohner*innen, bietet für tierisches Wildleben nicht nur Nachteile.

Viele Tierarten haben mittlerweile ihren Weg in die Städte gefunden. Manche waren immer schon da und gezwungen, sich anzupassen. Andere sind freiwillig gekommen oder wurden durch den Menschen eingeschleppt. Sie alle haben gelernt, sich mit unserer Hektik zwischen Hochhäusern aus Stahl, Beton und Glas zu arrangieren.

Tiere kommen in die Städte

Fotojournalist Sven Meurs ist von der Fusion der Welt der Tiere und der des Menschen fasziniert. Denn obwohl Stadt und Natur oft als unvereinbare Gegensätze wahrgenommen werden, bieten Großstädte etlichen Arten Ausweichquartiere und Ersatzlebensräume. Für einen Bildband hat Meurs deutsche Großstädte bereist, Tiere in ungewöhnlichen Lebensräumen aufgespürt, sie beobachtet und porträtiert. "Ich möchte zeigen, was sich im Verborgenen in unseren Städten abspielt. Damit jeder selbst Abenteuer direkt vor der Haustür erleben, sich an der Natur im Allgemeinen und der Stadtnatur im Speziellen erfreuen kann", sagt der 39-Jährige.

Dass Großstädte manchen Tierarten gute Lebensräume bieten, weiß Berliner Wildtierreferent und Wildtierexperte Derk Ehlert. "Inzwischen leben, zumindest in Berlin, deutlich mehr Füchse im Stadtgebiet als auf gleicher Fläche im Wald. In keiner anderen Metropole Deutschlands gibt es derart viele Wildschweine. Selbst Insekten haben in der Stadt eine bessere Überlebenschance als auf intensiv genutzten, mit Pflanzenschutzmittel belasteten Agrarflächen", sagt er. Tiere hätten gelernt, dass Menschen keine Gefahr bedeuten, ihnen mitunter sogar Sicherheit bieten. Die Stadt sei längst kein Ort mehr, der von der Natur gemieden würde, so Ehlert.

Wie geht Großstadtwildnis?

Eine Stadt wird nie einen dschungelartigen Wald oder satte Wiesen ersetzen können. In einer Stadt allerdings scheint es ein unerschöpfliches Angebot an Nahrung zu geben. Überfüllte Mülleimer, Abfälle von Restaurants und Supermärkten, Kuchenkrümel, vergessene Pommes, Überbleibsel der letzten Grillfeier, Reste des Überkonsums der Menschen sind an jeder Ecke zu finden. Jäger*innen arbeiten kilometerweit weg und von Radfahrer*innen oder Spaziergänger*innen bleiben Wildschweine, Füchse und Co. unbeeindruckt.

"In manchen Momenten möchte ich die Großstadt gegen keine Savanne der Welt eintauschen – etwa wenn ich mit meinen Kindern mitten in der City, versteckt hinter dem Kotflügel eines Autos, eine Fuchsfamilie mit ihren Welpen beobachte, die auf einem winzigen Grünstreifen, eingepfercht zwischen Bahngleisen, Schnellstraße und U-Bahnhaltestelle, spielen", sagt Meurs.

Berlin ist nicht nur Bundeshauptstadt, sondern auch Hauptstadt der Wildtiere – laut Meurs sogar "unangefochten". Berlins riesige unbebaute Gebiete und große Waldflächen sind Heimat für mehr als 3.000 Wildschweine. Kein*e Berliner*in ist noch überrascht, wenn er*sie in der Dunkelheit einem Fuchs begegnet. Laut Wildtierreferent Derk Ehlert gelten sie gemeinsam mit Waschbären, Kaninchen und Mardern als Big Five der Stadt. Sie hätten gemerkt, dass es in der Stadt attraktive neue Lebensräume gebe. Dass es Menschen gibt, die sie sogar füttern und dass ihnen niemand etwas Böses will.

Und so kommt es, dass ein Wildschwein schon mal bis in den ersten Stock eines ungenutzten Hauses läuft oder ein Fuchs wahrscheinlich unabsichtlich mit der U-Bahn fährt. Das sei laut Ehlert an sich nichts Ungewöhnliches. "Interessant ist aber, wie die Menschen darauf reagierten. Keiner wollte, dass wir das Tier töten. Alle wollten, dass der junge Fuchs wieder heil herauskommt. Aber keiner hat ihm Platz gemacht. Der Fuchs wäre gern stiften gegangen, konnte aber nicht, weil die Türen von Menschen versperrt waren. Also haben wir ihn eingefangen und zurückgebracht."

Großstadt Wildnis – Auf Tiersafari in unseren Städten von Sven Meurs, Knesebeck Verlag, 30 Euro