Alles begann mit einem einfachen Post: "Ich gehe auf den Maidan - wer kommt mit?", schrieb der Journalist Mustafa Najem im November 2013 auf Facebook. Viele, vor allem junge Ukrainer*innen folgten seinem Aufruf und versammelten sich auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Hauptstadt Kiew, um gegen die Entscheidung ihres damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch zu protestieren.

Dieser hatte überraschend seine Unterschrift unter dem Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union verweigert. Der Vertrag hätte eine weitere Öffnung der Ukraine Richtung Westen und eine engere wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit der EU bedeutet. Wenige Monate später floh Janukowytsch außer Landes, nach Russland.

Mehr als 100 Menschen starben bei den Protesten auf dem Maidan in Kiew

Seine Regierung ließ zuvor die Proteste gewaltsam niederschlagen. Die Situation auf dem Maidan schaukelte sich über Wochen immer weiter hoch. Mehr als 100 Menschen verloren, vor allem im Februar 2014, bei den Kämpfen auf dem Euromaidan mitten in Kiew ihr Leben. Im März 2014 annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim, im Osten des Landes begann der Krieg – beides prägt die Ukraine bis heute.

Das Assoziierungsabkommen mit Brüssel ist mittlerweile von der neuen pro-westlichen Regierung unterschrieben, es gilt Visa-Freiheit mit der EU. Ihre schwache Wirtschaft konnte die Ukraine bisher jedoch ebenso wenig überwinden wie die Korruption, die sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens durchzieht. Doch 2019 ist Superwahljahr in der Ukraine: Die Bürger*innen stimmen im kommenden März und Oktober über eine*n neue*n Präsident*in und ein neues Parlament ab.

ze.tt hat drei junge Ukrainer*innen gefragt, wie sie die Proteste vor fünf Jahren erlebt haben, was heute von der Maidan-Revolution geblieben ist und was sie sich für die Zukunft ihres Landes wünschen.

Sebastian Matviychuk, 23 Jahre, Student:

Ich war damals Student im Westen der Ukraine und da der Maidan als Studierendenprotest begann, hat er uns alle beeinflusst. Jeder hat die Nachrichten geschaut, manche von uns haben nachts statt zu schlafen, das Geschehen in Kiew in Onlinestreams verfolgt. Die Sache ist die: Fast jeder hatte die Hoffnung, dass der Maidan etwas in uns und im ganzen Land verändern kann. Jeder war emotional involviert. Aber dazu ist es nie gekommen.

Menschen sind in den Protesten gestorben, der Krieg in der Ostukraine begann und heute ist die Situation im Land so schlecht, wie sie nun mal ist. Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wie es um die Maidan Bewegung heutzutage steht. Unsere aktuellen Politiker*innen haben jede Chance vertan, die sie hatten. 

Zunächst wurden alle Probleme mit einem Grund erklärt: ,Wir sind im Krieg' – aber der Krieg dauert schon ziemlich lange, oder?
Sebastian

Vieles muss sich verändern, angefangen bei der Mentalität. Damit meine ich eine Perspektive für morgen und kein Leben von Tag zu Tag. Außerdem brauchen wir Chancen, uns zu entwickeln. Dass in den vergangenen Jahren mehrere Millionen Menschen das Land verlassen haben, um woanders bessere Möglichkeiten für sich zu finden, spricht doch für sich.

Valeria Kovtun, 21 Jahre, Journalistin:

Als der Maidan begann, war ich in meinem letzten Schuljahr. Am Anfang haben wir uns einen Spaß daraus gemacht: Stunden geschwänzt, im Unterricht darüber getuschelt, Maidan-Lieder gesungen. Diesem Gefühl, vereint zu sein, ist später Angst und Wut gewichen.

Ich erinnere mich an einen Winterabend, als mein Telefon klingelte und meine Mutter sagte: "Ich weiß nicht, was in diesem Land vor sich geht …" Sie begann zu weinen. Ich schaltete den Fernseher ein und hörte Schüsse in den Nachrichten. An dem Abend erschauderte das ganze Land bei dem Anblick, wie Menschen im Herzen von Kiew getötet wurden.

Zwei Jahre später filmte ich als TV-Journalistin Dutzende öffentliche Beerdigungen von Soldat*innen, die im Krieg in der Ostukraine gestorben waren. Ich musste jedes Mal danach weinen.

Wie viele ukrainische Journalisten habe ich mich leider langsam an den Tod gewöhnt – in der Schule hatte ich mir meine journalistische Karriere ganz anders erträumt.
Valeria

Jetzt fragst du dich wahrscheinlich, ob der Maidan gescheitert ist. Ich finde nicht. Mich, und ich glaube viele Gleichaltrige, hat er stärker gemacht. Der Journalismus wurde neu belebt und Reformen angestoßen, die in der Ukraine jahrzehntelang nicht möglich waren. Ich sehe die Veränderung – vielleicht geht sie nicht so schnell, wie viele es gern hätten.

Obwohl ich sehr skeptisch gegenüber der politischen Elite bin, sehe ich junge Ukrainer*innen, die an den Top-Universitäten der Welt studieren und zurückkommen, um das Land voranzubringen. Ich kenne tolle Menschen, die ohne Zweifel die Ukraine eines Tages gut führen werden. Der Maidan ist noch nicht vorbei.

Yuri Kuzmenko, 33, Filmemacher:

Ich war damals auf dem Maidan und habe begonnen, eine Dokumentation über die magischen Synergien dieser klugen, starken Menschen zu machen, die rausgingen, um ihre Würde zu verteidigen. Wir hätten das Land verlieren können und der Maidan war die einzige Möglichkeit, etwas zu verändern.

Die Revolution der Würde hat einiges gebracht und diese Entwicklungen setzen sich trotz Widerstand weiter fort. Die Ukraine ist nach Westen ausgerichtet, davon gibt es kein Zurück mehr. Diese Entscheidung führte aber auch zur Annexion der Krim und zum Krieg mit Russland. Wir haben nun Visafreiheit mit der EU, was toll ist, doch viele Menschen ziehen weg.

Ein gutes Beispiel umgesetzter Reformen ist das transparente, öffentliche E-Vergabesystem ProZorro, was in der Ukraine entwickelt wurde und dem Staat seit 2016 bereits Milliarden eingespart hat. Aber es gibt auch Reformen, die gescheitert sind und solche, die noch nicht von Politiker*innen angegangen wurden. Die Korruption bleibt unser größtes Problem. 

Ein großer Minuspunkt ist, dass sich aus dem Maidan keine vereinte politische Kraft oder Partei bilden konnte.
Yuri

Ich wünsche mir, dass die Ukraine ihre notwendigen Reformen in der Zukunft durchsetzt, die Infrastruktur und auch das Geschäftsklima verbessert. 2019 finden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, der Ausgang scheint mir völlig unvorhersehbar. Wer auch immer gewinnt, muss den Kurs fortsetzen.