In der Nacht auf den 29. Mai schlief ich nicht. Twitter spülte mir das Video von dem gewaltvollen Tode George Floyds in die Timeline. Wider besseres Wissen sah ich es mir an. Es war nicht das erste dieser Art. In den letzten Jahren verbreiteten sich unzählige Videos in den sozialen Medien, die Gewalt gegenüber Schwarzen Körpern zeigten. Trotzdem schmerzte dieses anders.

In dieser Nacht schrieb ich über George Floyd und Black Lives Matter, über Schwarze Wut und Schwarze Trauer, in den USA, aber auch in Deutschland. Ich zweifelte daran, dass sein traumatisierender Tod zu einer nachhaltigen Veränderung rassistischer Strukturen führen würde, weder dort noch hier. Zu oft schon verebbten die Rufe Schwarzer Menschen nach sozialer Gerechtigkeit wieder. Heute, fünf Monate später, weiß ich, dass ich Recht hatte.

Es sitzen immer noch Menschen in Talkshows, die das N-Wort aussprechen

Allein diesen Oktober durften sich Schwarze Menschen dreimal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk anhören, wie egal sie und ihre Sorgen der Mehrheitsgesellschaft im Endeffekt sind. Erst droppte der ehemalige Vizekanzler Sigmar Gabriel bei Maybrit Illner das N-Wort. Anschließend wurde sich bei Hart aber Fair zum x-ten Mal am N-Wort und dem M*****kopf abgearbeitet. Stichwort: Was darf man denn jetzt überhaupt noch sagen? Den krönenden Abschluss bot Markus Lanz, der eine Trump-Anhängerin zu sich einlud. Zur besten Sendezeit durfte diese fachsimpeln, ob es vielleicht genetische Ursachen habe, wenn Schwarze Menschen in den USA zu Drogendealer*innen würden.

Im Juni zitierte ich die Worte Toni Morrisons: "Die Funktion, die sehr ernste Funktion des Rassismus, ist Ablenkung." Die oberflächlichen Debatten, die in diesem Land geführt werden, um das N-Wort, Cancel Culture und angebliche Sprechverbote, sie sind genau das: eine Ablenkung. Wer sich ständig laut und sichtbar darüber aufregt, dass ihm*ihr die Stimme verboten würde, weil er*sie das N-Wort nicht mehr sagen darf, deckt keine rassistischen Strukturen in deutschen Behörden auf oder informiert sich über ausbeuterische Handelsverträge Europas mit dem sogenannten globalen Süden.

Wir führen Scheindebatten, die nichts an den Problemen ändern

Die Diskurse um Rassismus in Deutschland hängen sich auf an der Umbenennung von Straßennamen, dem N-Wort und an alten Kolonialdenkmälern. Was bringt es mir, wenn die Bismarck-Statuen gestürzt werden, die Auswirkungen der kolonialen Politik, die er mitbegründet und getragen hat, aber weiterhin unangetastet bleiben? Was bringt es, wenn das N-Wort zwar verboten ist, aber Lehrer*innen weiterhin Schwarze und Schüler*innen of Color systematisch schlechter bewerten und ihnen damit Aufstiegschancen verwehrt bleiben? Was bringt es, wenn wir das Wort "Rasse" aus dem Grundgesetz streichen, der Rassismus selbst bleibt in Deutschland aber bestehen?

Bitte nicht falsch verstehen, ich unterstütze Aktionen wie "N-Wort stoppen". Genauso wie die unermüdlichen Bemühungen Schwarzer Organisationen, die Namen alter Kolonialisten aus den Stadtbildern zu verbannen. Sie sind wichtig und richtig. Ihnen gilt mein größter Respekt. Es ist aber nur der erste Schritt, weitere müssen folgen. Das ist Aufgabe der weißen Mehrheitsgesellschaft.

Wie viel mehr Zeit wollen sie für ihren Fortschritt?
James Baldwin

Das beginnt damit, dass wir aufhören darüber zu diskutieren, ob es so etwas wie strukturellen Rassismus überhaupt gibt. Schwarze Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen of Color wie Dr. Fatima El-Tayeb oder Aylin Karabulut haben dies in ihren Untersuchungen bereits bewiesen. Rassismus wurde über Jahrzehnte institutionalisiert und genau dort müssen wir anpacken – an der Wurzel. Das bedeutet beispielsweise eine radikale Änderung des deutschen Schulsystems und die Aufnahme antirassistischer Inhalte in die Curricula und zwar von der ersten Klasse an. Es bedeutet auch, jetzt sofort unabhängige Beschwerde- und Kontrollstellen für staatliche Einrichtungen wie die Polizei zu schaffen.

Meine Hoffnung liegt auf den vielen jungen rassifizierten Menschen, die in den letzten Monaten zusammenkamen: Sie erwarten die Veränderung nicht mehr, sie fordern sie ein.

Wie lange noch?

Ein kurzer Videoclip von James Baldwin aus dem Jahr 1989 wurde in den letzten Wochen oft auf Social Media geteilt. Darin sagt er:

"Sie haben mir immer gesagt, dass es Zeit braucht. Es hat die Zeit meines Vaters und die Zeit meiner Mutter gekostet. Die Zeit meines Onkels. Die Zeit meines Bruders und meiner Schwester. Die Zeit meiner Nichte und meines Neffen. Wie viel mehr Zeit wollen sie für ihren Fortschritt?"

Deutschland sperrt sich seit Jahrzehnten erfolgreich gegen echte strukturelle Veränderungen. Ein Grund, warum mein Vater sich beispielsweise überhaupt nicht mehr die Mühe machte, so etwas wie positive Erwartungen zu entwickeln. Dieses Land hat ihn schon zu oft enttäuscht. Er, der diese Diskussionen schon so viel länger führen muss als ich, sagte mir im Juni: "Ich bin es leid, wütend zu sein." Deshalb frage auch ich: Deutschland, wie viel länger müssen Schwarze Menschen und People of Color warten? Wie viel Zeit brauchst du noch für deinen Fortschritt?