Wer in überregionalen Zeitschriften über den Osten liest, bekommt es gern mit der Angst zu tun: zweistellige Wahlergebnisse für die AfD, brennende Wohnstätten für Geflüchtete und Pegida-Aufmärsche. Im Osten leben offensichtlich nur Nazis. Dabei gibt es auch eine andere Seite, die deutlich weniger Aufsehen in der Medienlandschaft erregt. Die Mitte leistet seit einigen Jahren tapfer Widerstand mit kreativen Ideen, die Demokratie und Frieden feiern. Sowohl die Bevölkerung, als auch offizielle Vertreter der Städte und Gemeinden wehren sich gegen die rechte Vereinnahmung und das Bild, dass über sie verbreitet wird – so wie Dresden.

Nachdem 2005 über 6.500 Nationalisten und Faschisten in der Stadt aufmarschierten, suchten Politker*innen und Bewohner*innen nach Möglichkeiten des friedlichen und kreativen Protestes. Inzwischen sind Kundgebungen, Gedenkspaziergänge für die Opfer des Nationalsozialismus und Menschenketten fester Bestandteil der ostdeutschen Erinnerungs- und Widerstandskultur. Es hat sich ein Bewusstsein in Teilen der Bevölkerung durchgesetzt, dass Aussitzen und Wegschauen keine Optionen mehr sind. Wer den Rechten Einhalt gebieten will, muss eine deutliche Botschaft senden: "Das ist unsere Stadt und wir überlassen sie euch nicht mehr." Selbst, wenn es dazu führt, dass auch der Protest der Rechten von Trauermärschen zu Guerilla-Taktiken umschwenkt, wie dem Überkleben von Dresdner Stolpersteinen.

Woher ich das alles weiß? Weil ich zu den Betroffenen gehöre. Auch durch meine Heimatstadt Magdeburg marschieren jeden Januar Rechtsextreme, um den Opfern einer Bombennacht zu gedenken. Fünf Jahre lang war ich mal mehr, mal weniger an den friedlichen Protesten beteiligt. Zunächst als Schülerin, dann als Studentin und Mitorganisatorin. Ich habe in Planungstreffen gesessen und mit Menschen gesprochen, die unseren Protest für zu bunt und an einem "solchen Trauertag für vollkommen unangemessen" hielten. Und ich erlebe, wie einige der Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin noch heute die Proteste am Laufen halten, während andere in den Floskeln der Rechten und der Nationalisten sprechen. Daher frage auch ich mich regelmäßig, was ist da eigentlich los im Osten?

Kulturschock

Um diese Frage beantworten zu können, muss einem vor allem klar sein, dass die DDR und die BRD eine jeweils vollkommen andere Kultur- und Gesellschaftsordnung waren: Wer nach 1990 geboren wurde vergisst gern einmal, dass Deutschland noch nicht lange politisch geeint ist. Zwei Generationen wurden durch ihre Kriegserfahrungen und unterschiedliche ideologische Systeme geprägt, die jeweils anders mit den Lasten des Nationalsozialismus umgingen. Im Westen versandeten Prozesse gegen Beamte des ehemaligen Regimes immer wieder; ein Umstand, der noch bis in die 70er Jahre für Aufruhr innerhalb studentischer und linker Szenen sorgte und Teil des Gründungsimpulses der RAF wurde. Im Osten wurde die Entnazifizierung dagegen vermeintlich radikal durchgeführt. Aufbauend auf der politischen Verfolgung der Sozialisten und Kommunisten im Dritten Reich, war es nicht schwierig, Rechtspopulisten öffentlich anzuprangern und scharf zu verurteilen. Zugleich wurde ein überzogener Mythos des kommunistischen Widerstandes erschaffen, der auch diejenigen Sozialisten zu Helden machte, die heimlich oder offen mit den Nazis zusammengearbeitet hatten.

Im Westen wurde die Debatte um den Nationalsozialismus und die Täterschaft einer ganzen Generation politisch nur zögernd angegangen, dafür aber umso stärker öffentlich geführt. In der DDR war das Gegenteil der Fall. Die scheinbar klare Haltung der SED-Führung schien eine öffentliche Auseinandersetzung obsolet werden zu lassen. Die Partei sagte klar, dass der Nationalsozialismus furchtbar und verbrecherisch war – was gab es da noch zu diskutieren? Organe des Meinungsaustausches gehörten zum Staatsapparat oder ordneten sich ihm unter. Eine kritische Debatte über Rassismus, Nationalismus oder den Umgang mit Verbrechern der Nazi-Diktatur fand daher kaum statt.

Die Altlasten der Altlasten

Genau diese Haltung zeigt sich bis heute in den Neuen Bundesländern als problematisch. Die staatlich diktierte Überzeugung, dass die Nazizeit furchtbar war, unterband für lange Zeit eine offene Diskussion und ein Erinnern und Gedenken abseits von ideologischen Fesseln. So bleibt heute bei einigen das Gefühl, dass der Prozess der seit Jahrzehnten verordneten Reue doch nun langsam abgeschlossen sei. Kein Wunder also, dass die Rechten es anfangs nicht schwer hatten, ihre Trauermärsche durch die Innenstädte zu planen und teilweise auch auf wohlwollende Menschen zu treffen. Endlich ein Erinnern der deutschen Opfer, der deutschen Verluste, der deutschen Tragödie! Wer die Banner der Rechten sieht, merkt schnell: Von dieser Idee zehren sie bis heute.

Neben dem Teil der bürgerlichen Mitte, der inzwischen angefangen hat laut und deutlich Stellung gegen faschistisches Gedankengut und die Vereinnahmung solcher Gedenktage vorzugehen, bleibt eine große Gruppe von Menschen, die lange nur im Stillen auf Seiten der Nationalisten waren und sich jetzt gestärkt fühlen, in die Öffentlichkeit zu treten. Sie sind diejenigen, die unter dem Banner der Pegida-Bewegung marschieren und ihr Kreuzchen bei der Landtagswahl für die AfD abgeben. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel, wo viele stolz auf die stetig sinkenden Teilnahmezahlen der Naziaufmärsche sind, waren es bei der Wahl 2016 ein Viertel der Wähler*innen. Viele von ihnen argumentieren mit ihrer Angst. Angst vor der sogenannten Überfremdung, vor sozialem Abstieg, vor Gewalt und den Politiker*innen, die das Land vermeintlich in den Ruin treiben. Sie fühlen sich zur Rettung des Landes berufen, wenn es doch sonst keiner retten möchte. In ihrem Narrativ sind sie die Helden, die uns andere vor unserer eigenen Naivität bewahren – eine Logik die für sie so stichfest ist, dass sie kaum von außen durchbrochen werden kann.

Hinzu kommt, dass eben auch die Erfahrungen und Prägungen der DDR-Bürger*innen ganz andere sind, als die der Westdeutschen. Das politische System war zu großen Teilen auf Gleichschaltung ausgelegt. Die Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen traten hinter den Erfordernissen des Kollektivs zurück und abweichende politische Meinungen wurden kritisch beäugt oder sogar systematisch unterwandert und verhindert. Gleichzeitig versprach die Partei den Bürger*innen Sicherheiten, die sie nach der Wende plötzlich verloren: sichere Arbeitsplätze, bezahlbare Mieten und kostengünstige Versorgung mit den wichtigsten Gütern des alltäglichen Bedarfs. Dass eine ganze Generation in diesen Sicherheiten und Überzeugungen aufwuchs und sich dann plötzlich in einem konträr laufenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zurechtfinden musste, leistete mit Sicherheit einen großen Beitrag zu den Sorgen und Ängsten, die heute den Rechten Ostdeutschlands die Wähler in die Arme treiben.

Die NSU und der Thüringer Verfassungsschutz

Während einige Wähler*innen von der Mitte immer weiter zum rechten Flügel abwandern, baut der rechtsextreme Untergrund seine Strukturen und Netzwerke unentwegt aus – und das lange Zeit vollkommen unbeobachtet. Jena schafft es nicht häufig in die Headlines der großen Zeitungen, aber inzwischen weiß jeder, dass hier begann, was im November 2011 als Nationalsozialistischer Untergrund deutschlandweit bekannt wurde.

Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe hatten sich Mitte der 1990er Jahre in der rechtsextremen Szene Jenas kennengelernt. Gemeinsam sollten sie zehn Menschen ermorden. Dass ihnen dies überhaupt gelang, lag auch am Versagen des (Thüringer) Verfassungsschutzes und den involvierten Polizeibeamten, die aus einer rassistisch motivierten Mordserie Einzelfälle machte und Zeit und Energie darauf verwendete, Verbindungen zum Milieu zu finden, die schlichtweg nicht existierten. Zwölf Jahre konnten die Drei Straftaten im gesamten Bundesgebiet begehen. Es war der traurige Höhepunkt einer langen Reihe von Fehlern im Umgang mit rechten Strukturen in Ostdeutschland. Erst im Laufe der Ermittlungen wurde das Ausmaß der Verstrickungen von Rechtsextremisten und Verfassungsschutz klar. Nicht nur, dass ein Großteil der V-Männer aus dem NSU-Umfeld keinerlei Hinweise auf die Täter geliefert hatte, der Verfassungsschutz unterstützte mit staatlichen Geldern auch indirekt den Aufbau der rechten Strukturen, wie zum Beispiel den Thüringer Heimatschutz unter V-Mann Tino Brandt. Der Fall legte also zwei Probleme offen. Zum einen zeigte es, dass in einer ostdeutschen Stadt der Nährboden bestand, aus dem eine rechtsextreme Terrorzelle erwachsen konnte. Zum anderen drängt sich die Frage auf, ob die staatliche Organe auf ganzer Linie versagten, oder schlimmer noch, wohlwollend auf rechte Strukturen blicken.

Im Osten nichts Neues?

Es bleibt die Frage bestehen, wie es in Städten wie Dresden, Jena, Dessau und Magdeburg weitergehen wird. Vielleicht ist die offen gezeigte rechte Gesinnung mancher Bürger*innen eine Chance, die lange schon im verborgenen bestehenden Sympathien für nationale und faschistische Ideen neu zu thematisieren und eine breitere Schicht der Bevölkerung für deren Gefahren zu sensibilisieren. Vielleicht können Bürger*innen und Politiker*innen mit Menschenketten und Gedenkspaziergängen tatsächlich ein Zeichen für Demokratie und gegen Faschismus setzen.

Vielleicht waren Prozesse wie der gegen Zschäpe aber auch nur der Vorbote eines lange andauernden Kampfes um Demokratie und Menschenwürde. Vielleicht zeigen Pegida und Co., wie wichtig das Ringen um die Enttäuschten und Besorgten ist, die zunehmend zu den Neonazis und Rechtskonservativen überlaufen und dass es an der Zeit ist, dass ostdeutsche Politiker*innen geschlossen gegen Rechts einstehen. Die Proteste und Kundgebungen sind ein wichtiger Schritt. Sie reichen aber noch nicht aus, wenn Menschen in die Landesparlamente einziehen, die Denkmale für die Opfer des Holocausts für eine Schande halten, auf Geflüchtete schießen wollen und eine bindende Geburtenquote für Frauen einführen möchten. Und vor allem sind sie nur Ausdruck des Kampfes in den ostdeutschen Großstädten, während die Wählerschaft der Rechten sich zu großen Teilen in den toten ländlichen Gebieten rekrutieren lässt. Vielleicht müssen mehr Menschen aus der Mitte noch mehr tun, damit nicht nur das Bild vom rechten Osten irgendwann verschwindet, sondern der Osten auch tatsächlich nicht mehr von Rechten als Rückzugsgebiet und Aufmarschplatz genutzt werden kann.