Dieser Text ist Teil einer Kolumnenserie für ze.tt Crime. Eine Anwältin, eine Gefängnisarchitektin und eine Rechtsmedizinerin berichten über ihren Berufsalltag, Themen, die sie beschäftigen und kuriose Fälle. Dieses Mal schreibt Andrea Seelich über Besuche in Gefängnissen.

Immer, wenn ich in ein Gefängnis gehe, ist es ein Besuch. Als Architektin achte ich auf Proportionen, Licht, Farbe, Material und Akustik. Ich sehe mir die Räume an, die um den Freiheitsentzug herum gebaut wurden. Bei meinen Besuchen geht es immer um eine Bestandsaufnahme, bei der ich mir Notizen mache und auch fotografiere. Um eine spezielle räumliche Situation zu dokumentieren, oder ein interessantes bauliches Detail in meinen wissenschaftlichen Lösungskatalog aufzunehmen, hat sich das bewährt. Diese Fotos dienen meiner Arbeit, ich gebe sie nie an Medien weiter. Selbstverständlich achte ich darauf, keine persönlichen Dinge abzulichten.

Das Gefängnis ist eine Ansammlung von Räumen für eine Zeit, die das Davor von dem Danach trennt. Laut Gesetz müssen diese Räume soweit wie möglich dem Leben in Freiheit angepasst sein. Meiner Meinung nach müssten sie noch viel mehr. Sie sollten Insass*innen motivieren, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und sie sollten ermuntern, sich Fähigkeiten anzueignen, die es ermöglichen, ein Leben ohne weitere Straftaten zu führen.

Oft muss sich ein inhaftierter Mensch sich dafür von seiner Familie und Freund*innen lossagen. Er muss eine neue Definition seiner selbst finden. Das ist eine Riesenaufgabe. Und all das in den beengten Bedingungen einer totalen Institution. Rund um die Uhr mit Menschen auskommen, mit Angestellten, Therapeut*innen, Sozialarbeiter*innen und mit den anderen Insass*innen.

Besuch im Gefängnis ist ein formatiertes Aufeinandertreffen von Insassen, Täter und dem Leben vor der Tat.

Im Gefängnis ist es schwer, den Kontakt zur Außenwelt aufrechtzuerhalten. Besuch spielt deshalb eine besondere Rolle. Doch in einer Justizvollzugsanstalt ist er streng geregelt. Es ist ein formatiertes Aufeinandertreffen von Insass*innen, Täter*innen und dem Leben vor der Tat. Eine adäquate Gesprächsbasis zu finden, ist schwer. Denn die unterschiedlichen Lebenswelten von Insass*innen und ihren Besucher*innen führen zwangsweise zu einer Entfremdung. Die Folge sind oft flache Dialoge und die Übergabe von erlaubten, in der Anstalt nicht erhältlichen Gütern. Eine entspannte Gesprächsatmosphäre entsteht so nicht.

Um das zu ändern, könnte man gemeinsame Tätigkeiten bei den Besuchen ermöglichen, wie zum Beispiel gemeinsames Kochen. Manche Justizanstalten bieten dies in ihren Familienbesuchsräumen an.

Wie die Haft Familien entzweit

Ich besuche seit 20 Jahren Anstalten und höre den Menschen dort zu. Den Anstaltsleiter*innen, den Bediensteten, den Insassen, den Besucher*innen.

So wie neulich, als ich auf dem Weg aus einem Gefängnis zum Bahnhof einer Frau Unterschlupf unter meinem Regenschirm angeboten habe. Eine Geste, die auf dem Feldweg, der Abkürzung zwischen Gefängnis und Bahnhof, schnell eine persönliche Kommunikation ermöglichte. Dankbar nahm sie mein Angebot an. Sie musterte mich und meine Berufskleidung: blauer Hosenanzug, weiße Bluse. Nachdem sie sich versichert hatte, dass ich keinen Angehörigen in der Anstalt habe, begann sie, von sich aus zu erzählen.

Dieter will die Kinder sehen und er will mit ihr alleine sein. Aber er ist ihr fremd geworden.

Ihr Mann Dieter wurde vor fast zehn Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt. Er war ihre Jugendliebe. Sie war sehr jung, als er in Haft kam, und stand plötzlich mit den zwei kleinen Kindern ganz alleine da. Sein bester Freund Uwe half ihr damals und zog auch bald bei ihr ein. Eigentlich wollen sie heiraten, doch sie bringt es nicht übers Herz, Dieter um die Scheidung zu bitten. Dieter weiß nichts von Uwe. Warum auch. Die Kinder haben keinen Bezug zu Dieter, sehen Uwe als Vater.

Jetzt hat Dieter plötzlich Familienbesuch genehmigt bekommen. Das bedeutet, dass der Insasse seine Partnerin oder Ehefrau und seine Kinder in einer ungestörten Situation empfangen kann. Die Räume, in denen diese Art von Besuch stattfindet, werden nicht überwacht. Es gibt allerdings eine Alarmklingel.

Dieter will die Kinder sehen und er will mit ihr alleine sein. Aber er ist ihr fremd geworden. Er hat sich so verändert und seine Hände sind jetzt so ungepflegt von der Arbeit in der Schlosserei. Sie weiß nicht, was sie tun soll. In dem Besuchsraum für Tischbesuche fand sich nie der passende Moment, Dieter um die Scheidung zu bitten. Beim Tischbesuch sitzt man sich an einem Tisch gegenüber, aber man ist nie allein. An den Nebentischen sitzen andere Besucher*innen und Häftlinge und da ist es nicht angebracht, etwas zu sagen, was eine heftige Reaktion auslösen würde. Schreiben wollte sie ihm das auch nicht, das wäre irgendwie feige und auch irgendwie unnötig, denn Dieter ist ja eh eingesperrt. Er ist jetzt ganz allein, alle Freund*innen haben sich abgewandt, seine Familie lebt im Ausland. Sie wollte ihn nicht verletzen.

Zu viele Menschen auf zu wenig Raum

Den Raum für Tischbesuche habe ich gesehen, er ist hell, mit viel Glas und einer Kinderecke. 15 Besuchstische mit je vier Stühlen stehen zur Verfügung. Drei Personen pro Insasse sind erlaubt. Auf den ersten Blick sieht er sehr ordentlich aus, bei Sonnenschein auch freundlich. Durch die große Glasfront im Süden wird er ab Mai aber sehr heiß und stickig.

Auch für die Angestellten ist der Raum nicht ideal. Vom Aufsichtsposten kann man den Raum zwar gut überblicken, solange er leer ist. Doch bei mehr als zwei Besuchen gleichzeitig ist ein persönliches Gespräch schwierig, bei mehr als fünf Besuchen der Überblick kompliziert und es wird sehr laut. Die Glaswände sind auch akustisch ein Problem.

Die Frau ist ratlos, wie es weitergehen soll.

Besuchsräume sollten geräumig bleiben, allerdings nicht bis zum Maximum ausgelastet betrieben werden. Eine freie Platzwahl, räumliche Distanz zwischen den einzelnen Besucher*innen, viel Licht und eine gute Belüftung tragen stark zu einer entspannteren Atmosphäre bei. So unterschiedlich die Beziehungen der Insass*innen und der Angehörigen sind, so unterschiedlich sollten Besucher*innenräume gestaltet sein. In den meisten Anstalten gibt es Räume mit strikter Trennung, also einer Glasscheibe zwischen Besucher*in und Besuchter*m, außerdem gibt es Tischbesuch und manchmal auch Familienbesuch. Zur Entspannung tragen Besuche im Freien bei, wo der Besuch in einem Garten mit Bänken stattfinden kann. Idealerweise wäre das eine Situation zwischen Tischbesuch und Familienbesuch. Für die kalten Monate wäre eine Besuchssituation außerhalb der Hauptbesuchszeiten optimal. Es gibt Anstalten, die sich dieser Thematik bewusst sind, und gerade bei langen Strafen sozialtherapeutisch unterstützend wirken. Bei der Planung von neuen Anstalten sollte das berücksichtig werden.

Ich habe auch den Raum für Familienbesuch gesehen. Er sieht aus wie ein Wohnzimmer in einem Plattenbau. Die Couch ist dominant und ausziehbar, fast bedrohlich mit einem wirren Muster. Die Wände sind knallgelb und orange gestrichen. Das Fenster führt in einen dunklen, feuchten Innenhof. Es gibt eine Küchenzeile, ein Bad. Bilder hängen unregelmäßig und schief an der Wand. Es gibt eine Alarmklingel. Wie oft die wohl betätigt wird?

Die Frau erzählt weiter, dass sie so gehofft habe, die Sozialarbeiterin anzutreffen. Mit ihr wollte sie über die Situation zu sprechen, doch die Frau ist gerade in Mutterschutz. Jetzt ist sie ratlos, wie es weitergehen soll. Als wir am Bahnhof ankommen, verabschiede ich mich von der Frau, wünsche ihr alles Gute und steige in den Zug. Sie fährt in die andere Richtung.

Geschichten wie diese ermöglichen es mir, einen Einblick und ein Verständnis für die einzelnen Alltagssituationen im Strafvollzug zu bekommen – und mitzuhelfen, Gefängnisse menschenfreundlicher zu gestalten. Im Zug sehe ich mir meine Fotos aus der Haftanstalt an und denke an Dieter, der noch nicht weiß, dass seine Frau längst einen anderen hat.