Das Lieblingsfach der 74-jährigen Gerda Wittenstein ist Philosophie. Sie interessiert sich für Immanuel Kants Ethik und praktische Theorien, die Existenz, Sein und Welt erklären. Im Sommer fährt sie zu einem mehrtägigen Seminar zum Thema Vermittlung zwischen Körper und Seele – betrachtet aus der philosophischen Perspektive.

Gerda Wittenstein ist Seniorenstudentin. Seit viereinhalb Jahren studiert sie auf dem Campus der Dortmunder Universität, besucht Vorlesungen und Seminare und geht in die Mensa. Eigentlich führt sie ein Leben wie die rund 30.000 anderen Studierenden der hiesigen TU auch. Fast.

Zum Pflichtprogramm des Seniorenstudiums gehören nämlich Kurse wie Grundlagen der Beratung statt Einführung in die Germanistik oder Lebenslage im Alter statt Statistik. Zweieinhalb Jahre hat Wittenstein studiert, was laut Broschüre zur Vorbereitung auf ein Ehrenamt oder ein bürgerliches Engagement diene. Nach fünf Semestern hatte die 74-Jährige ihr erstes Universitätszeugnis in Form eines Zertifikats in der Tasche. Darauf war sie zwar stolz, mit dem Studium aufhören wollte sie aber nicht. Erst nach dem Abschluss des Seniorenstudiums konnte sie die Kurse belegen, die sie wirklich interessieren, sagt Wittenstein: Neben Seminaren der Philosophie sind das Psychologie, Soziologie und Musikgeschichte.

In Rente an der Uni

Die Wahl-Dortmunderin ist eine von 55.000 Seniorenstudierenden hierzulande. Das verzeichnet der Akademische Verein der Senioren in Deutschland (AVDS) nach der Anzahl aller Menschen, die über 50 Jahre alt sind und studieren. Neben dem Dortmunder Modell, die Uni mit einem Zertifikat zu verlassen, gibt es die Möglichkeit, als gelegentliche Gasthörer*innen Vorlesungen zu besuchen genauso wie Vollzeit zu studieren – mit dem Ziel, einen Bachelor- oder Masterabschluss zu machen. Angeboten werden solche Studiengänge an mehr als 50 Unis in Deutschland, unter anderem in Hamburg, Trier und Münster.

Dass Lernen im Alter möglich und erstrebenswert ist, zeigen berühmte Fälle wie der des 97-jährigen Australiers Allan Stewart. Stewart hat vor fünf Jahren mit einem Master in der Medizin sein viertes Studium abgeschlossen. Seinen ersten Bachelor machte Stewart in der Zahnmedizin – im Jahr 1936. Auch Wittenstein ist die älteste Seniorenstudentin, wenn auch nur in ihrem Jahrgang. Doch ihr Alter lässt sie sich nicht anmerken, lässt sich Tipps für die besten Fitness-Studios geben – "aber bitte ohne solche Muskelpakete" oder belegt Seminare zu Power Point.

Zum Beginn des Seniorenstudiums im Herbst 2012 ist sie sogar mit ihrer Enkelin in eine WG gezogen. "Das Studium hat mein Leben total verändert", sagt sie.

Wissenschaftlich arbeiten, sich zwei bis drei Stunden am Stück konzentrieren und seitenlange Hausarbeiten abgeben: Anfangs seien Wittenstein die typischen Uni-Aufgaben schwer gefallen. "Aber ich hatte keinen Leistungsdruck und vor allem hatte ich Zeit", sagt sie heute. Irgendwann habe sie diese Rhythmen drauf gehabt wie ihre Mitte-20-jährigen Sitznachbar*innen.

Mit dem es-drauf-haben ist sie nicht allein: Tatsächlich zeigt die Altersstudie 2017, herausgegeben vom Institut für Demoskopie Allensbach, dass sich viele Deutsche im Alter zwischen 65 und 85 Jahren ehrenamtlich engagieren oder über die Pension hinaus weiter arbeiten. Die Rentner*innen, die nicht aus finanziellen Gründen jobben, sagen, sie tun es, weil ihnen die Arbeit Spaß mache. Von 15 Millionen Rentner*innen in Deutschland ist die Zahl der Seniorenstudierenden mit 55.000 zwar relativ niedrig, aber das Anti-Rentner-Dasein scheint zu trenden.

"Ich fühle mich sowas von befreit"

Wittenstein hat sofort gewusst, dass sie nicht zu Hause versauern wollte. Als sie mit 70 Jahren in Rente ging – nachdem sie 30 Jahre selbstständig eine Werbeagentur im Sauerland geleitet hatte – habe sie sich die Frage gestellt: "Und jetzt soll ich nur noch kochen?" Auf eine späte Karriere als Hausfrau hatte sie keine Lust, wie sie rückblickend sagt.

Ihr Mann will sich nun scheiden lassen. "Er sagt, wir hätten zwei unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen", erzählt sie. Achselzucken. Auf die Frage, ob das in dem Artikel über sie erscheinen dürfe, stimmt sie zu, in der Hoffnung, anderen Frauen Mut zu machen: "Ich fühle mich sowas von befreit. Endlich muss ich auf niemanden mehr Rücksicht nehmen."

Während des Gesprächs tippt Gerda Wittenstein hin und wieder auf ihrem iPhone herum – "nur kurz, meine Enkelin hat mir was auf WhatsApp geschickt" – oder guckt in die aktuelle Broschüre der TU-Kurse für Senior*innen. Die 74-Jährige scheint wissbegieriger zu sein als einige Langzeitstudierende in ihren 20ern – und das, obwohl gerade ihre jungen Kommiliton*innen ein Reiz für Seniorenstudierende seien.

Beispielsweise habe sie in dem Seminar zu verschiedenen Lebensphasen mit einem jungen Studenten Partnerarbeit machen müssen. "Ich bin 1942 geboren. Die jungen Leute haben ja gar keine Ahnung, wie wir aufgewachsen sind. So nach dem Motto, dass es hoffentlich nicht bald wieder Krieg gab", erzählt Wittenstein ohne herablassenden Unterton. Sie beneide es, wie Mädchen in Deutschland heute aufwachsen: "In Sicherheit. Und die haben alle ein Selbstbewusstsein. Das ist toll."

Wenn Wittenstein ihre Enkelin auf dem Campus trifft, dürfe diese trotzdem nicht Oma zu ihr sagen. "Das ist mir peinlich", sagt die 74-jährige Studentin. Sie lacht. Einmal hätte ihr ein junger Kommilitone nach einem gemeinsamen Vortrag die Hand zum High Five hingehalten. "Zum Glück kannte ich diese Bewegung von meinen Enkeln", sagt sie und lacht wieder. "Ich habe eingeschlagen."