Ich traf ihn in einem schottischen Pub. Er war groß und rothaarig und da war irgendwas, das sich nicht in Worte fassen lässt. Wir sahen uns über unsere Whisky-Gläser hinweg an – und waren wenige Minuten später so tief in ein intensives Gespräch versunken, dass seine Freunde scherzten: "Sollen wir schon mal eine Location für die Hochzeit suchen?"

So eine Begegnung, bei der im ersten Moment alles zu passen scheint und der Funkenregen derart heftig ist, dass die Umstehenden davon etwas abbekommen, die passiert nicht allzu häufig. Aber: Ist sowas Liebe auf den ersten Blick?

Wunsch versus Realität

Obwohl viele Menschen an Liebe auf den ersten Blick glauben – laut Dr. Earl Naumanns Buch Love at First Sight etwa 60 Prozent der dafür Befragten – erleben sie in der Realität deutlich weniger. In einer aktuellen Studie von Elite Partner zum Beispiel gaben nur 39 Prozent der Teilnehmenden an, sich auf den ersten Blick in ihre*n Partner*in verliebt zu haben; bei den meisten hat sich das mit der Verliebtheit erst mit der Zeit entwickelt.

Liebt' ich wohl je? Nein, schwör' es ab, Gesicht! Du sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht.
Romeo und Julia

Trotzdem gilt die alles verändernde Liebe auf den ersten Blick in unserer Gesellschaft als Ideal. Es gibt eine große Sehnsucht danach, den*die sogenannte*n Richtige*n zu finden – den Menschen, der für uns gemacht ist, uns immer versteht, mit dem wir alles zusammen durchstehen und der uns ganz mühelos für immer und ewig glücklich macht, weil er*sie ja nun mal für uns bestimmt ist.

Diese Bestimmung manifestiert sich in der magischen ersten Begegnung. So wie hier in dem Ausschnitt aus der 1990er-Verfilmung von Romeo und Julia mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes:

Zwei Hälften, die sich ergänzen

Für diese Sehnsucht sind unter anderem zwei Konzepte verantwortlich: Einerseits der Mythos von Platons Kugelmenschen, demzufolge der Mensch ursprünglich eine Kugel mit vier Armen und Beinen und zwei Köpfen war, die von Zeus gespalten wurde und seitdem dazu verdammt ist, die zweite Hälfte zu suchen. Und andererseits die aus der Zeit der Romantik stammende heteronormative Rollenvorstellung, dass Männer und Frauen qua Geschlecht so unterschiedlich sind, dass sie sich wie zwei Hälften ergänzen. Diese Vorstellungen finden sich auch heute noch in Büchern, Filmen und eben in unseren Köpfen wieder.

Doch das kann sich ziemlich ungünstig auswirken. Diese Vorstellungen implizieren nämlich, dass wir für eine erfüllte Beziehung nicht arbeiten, kommunizieren und reflektieren müssen und zugleich, dass es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen gibt, mit dem wir glücklich werden können. Beides führt fast automatisch zu Enttäuschung – und zur endlosen Wiederholung der Suche.

Liebe auf den ersten Blick ist flüchtig und einseitig

So verständlich der Wunsch danach ist, einzigartig zu sein, etwas Einmaliges zu erleben und als Komplettpaket ganz um seiner selbst Willen geliebt zu werden, so unrealistisch ist er eben auch. Oft ist Liebe auf den ersten Blick nämlich eine eher einseitige Empfindung. Außerdem basiert dieses Gefühl der absoluten Instant-Faszination oft auf rein äußerlicher Anziehung. Die hilft Wissenschaftler*innen zufolge zwar dabei, überhaupt erst für die Möglichkeit einer Beziehung offen zu sein, reicht aber allein auf Dauer nicht aus.

Es besteht die Gefahr, dass Liebe auf den ersten Blick so schnell wieder verfliegt, wie sie gekommen ist. Für eine lange, stabile Beziehung sind andere Dinge entscheidend. Freundlichkeit, Güte und Respekt zum Beispiel, wie der Beziehungsforscher John Gottman in jahrzehntelanger Forschung herausgefunden hat.

Und das ist das Problem bei der Sehnsucht nach Liebe auf den ersten Blick: Das, wovon wir träumen, ist nicht immer das, was uns auch langfristig glücklich und zufrieden macht.

Anziehung ist keine Liebe

Ich habe den rothaarigen Schotten übrigens nicht wiedergesehen. Aber das macht nichts. Denn auch, wenn es richtige Liebe auf den ersten Blick nicht gibt, wenn sie nur einseitig ist oder flüchtig – Begegnungen dieser Art sind wunderbar. Wenn die Chemie stimmt, wenn das Gehirn Botenstoffe ausschüttet, als gäb’s kein morgen mehr, wenn das Herz im Brustkorb Samba tanzt und alles möglich scheint, auch nur für einen Abend, dann ist das eine kostbare und berührende Erfahrung – eben weil sie so selten ist.

Ja, so eine Begegnung zweier Menschen mit dem Potenzial für mehr oder alles ist nicht gleichbedeutend mit Liebe. Das macht sie aber nicht weniger wichtig. Denn letztlich ist es diese intensive spontane Anziehung, die uns überhaupt erst öffnet für die Liebe – auf den ersten, zweiten oder zwölften Blick.