Er saß an der Ortsausfahrt von Keilberg (Gemeinde Bessenbach/Vorspessart) im Regen: Ein Tramper. Augenscheinlich ein Zimmermann auf der Walz. "Scheißegal wohin, nur weg von hier", sagte er, als er einsteigt.

Der ziemlich wortkarge Mann wollte erstmal in eine Kneipe. Ich eigentlich nach Hause; entschied mich dann aber doch, mich mit ihm auf ein Bierchen hinzusetzen. Ein paar Tische weiter bezahlen gerade zwei Menschen, als wir in den Gastraum hereinkommen, einer ruft dem Tramper zu: "Dein Bier geht auf mich!", Stefan* meint, sowas passiere ihm öfter. "Die Kluft hilft. Auch beim Trampen. Ich glaube, ohne meine Kleidung hätte ich als 1,90 Meter-Mann große Probleme, mitgenommen zu werden.", sagt er. Ich will mehr wissen über sein Leben auf der Walz.
Wegen deiner Kluft dürften dich zunächst viele für einen Zimmermann statt Goldschmied halten ...
... Ich bin jetzt seit vier Jahren unterwegs und in dieser ganzen Zeit ist es mir nur zwei Mal passiert, dass mich jemand als Goldschmied erkannt hat. Die Farben unterscheiden sich: Meine Kluft ist blau, die Kluft der Zimmermänner schwarz.

Warum hast du dich für die Walz entschieden?
Ich hatte eine unschöne Ausbildung. Und ich dachte: Wenn ich jetzt beim nächsten doofen Chef lande, werde ich da eh nicht lange bleiben. Und ein bisschen Abenteuerlust war es auch.

Bist du denn ein schwieriger Arbeitnehmer?
Ich bin wählerisch. Wenn ich nach einer neuen Stelle Ausschau halte, gucke ich mir immer genau das Schaufenster an. Und nur, wenn mir die Sachen gefallen, frage ich nach Arbeit.

Wie finden Goldschmiede auf der Walz Arbeit?
Viele haben eine schlechte Auftragslage, außerdem brauchen sie ein Werkbrett, also einen Arbeitsplatz. Und auch einen Schlafplatz. Und wir dürfen höchstens drei Monate bei einem Arbeitgeber bleiben. Man braucht schon ein dickes Fell. Manchmal suche ich bis zu einem Monat.

Wie finanzierst du dich in dieser Zeit?
Ich bin Schwabe, ich kann mit Geld umgehen, das liegt mir im Blut (lacht). Aber es gibt auch Unterstützung durch andere. Ich werde oft zum Essen eingeladen. Nur durch Arbeit könnte ich mich nicht finanzieren.

Hattest du auch mal einen richtig miesen Arbeitgeber?
Einer hat mir mal 700 Euro Lohn nicht gezahlt. In Pforzheim war das, so ein Egoist. Damals war ich noch sehr jung und gerade mal ein halbes Jahr auf Wanderschaft – und bin einfach weitergezogen. Heute würde ich die anderen Wandergesellen zusammenrufen und wir würden seinen Laden besetzen, um ihn unter Druck zu setzen.

Wie, besetzen?
Wir setzen uns mit einem Kasten Bier vor die Eingangstür und dann bekommt die ganze Ortschaft mit: Der bezahlt sein Geld nicht. Das ist den Chefs dann natürlich mega unangenehm. Und dann bezahlen sie auch.

...Ich würde vermutlich vors Arbeitsgericht gehen.
Wir sind ja ständig unterwegs, und dann sollst du da vor Gericht erscheinen, da hat keiner Bock drauf. Außerdem leben wir innerhalb unserer Zunftregeln, wir mögen so Staatlichkeitssachen nicht. Wir rufen nicht die Polizei, wir regeln das selbst. Aber natürlich halten wir uns an die Gesetze des jeweiligen Landes. In Holland dürfen wir eine Tüte rauchen, in Deutschland nicht. (lacht)

Gesetze sind das eine. Was gibt es für Zunftregeln?
Zum Beispiel müsste ich diesen kaputten Knopf (siehe Foto) innerhalb von 24 Stunden ersetzen, der ist aber schon seit zwei Tagen kaputt. Niemand hält sich an alle Regeln! Die oberste Maxime ist: Der nächste Wandergeselle nach dir muss auch wieder freundlich begrüßt werden. Also: Keine verbrannte Erde hinterlassen.

Und wir dürfen kein Handy haben, das finden viele sehr schockierend. Das beschäftigt die Menschen mehr, als wenn du erzählst, dass wir mindestens 50 Kilometer Abstand vom Heimatort halten müssen. Eigentlich traurig.
Kein Handy?!
Nein. Aber bei uns gibt es den "Schnack". Das sind sichere Zusagen für ein Treffen mit anderen Gesellen. Man sagt: Wir treffen uns in einem Viertel Jahr an diesem Ort, in dieser Kneipe. Es gibt eine Toleranz von zwei Stunden, solange wartet man, dann haut man wieder ab. Das ist wie ein Vertrag, da tanzt man auch an und muss zwischendurch nicht mehr kommunizieren.

...Drei Monate im Voraus. Ganz schön lange.
Mein längster Schnack im Voraus waren fünf Monate. Ich kam in der Kneipe an und eine halbe Stunde später war mein Kollege da.

Und E-Mails?
Pfff, jaaa. E-Mails sind erlaubt, aber ich brauche das nicht wirklich. Ich gucke da sehr selten rein. Eigentlich ein bisschen traurig, dass der Rest der Menschheit das nicht mehr hinkriegt.

Wie hältst du dann Kontakt zu deiner Familie?
Es gibt ja Telefonzellen. Benutze ich aber auch selten. Für die Familie ist es immer doof, wenn du auf Wanderschaft bist. Meine Mutter macht sich ständig Sorgen. Naja, wäre wahrscheinlich auch eine ziemliche miese Mutter, wenn sie sich keine Sorgen machen würde.

Fühlst du dich nicht einsam, allein auf Wanderschaft?
Einsam ist das falsche Wort. (Denkt lange nach.) Ich fühle mich nicht einsam, aber oft sehr allein. Ich kann mit den Menschen nicht über Wandergesellen-Probleme reden. Das wollen die doch nicht hören, dass ich mir morgens nicht mal ne Zigarette drehen konnte, weil ich so unterkühlt war.

Wo warst du schon überall?
In ganz Europa – aber auch auf den Kanarischen Inseln, Malaysia, Thailand, Vietnam, Kambodscha.

Wissen die Leute denn überall, warum du so angezogen bist?
Nein, außerhalb von Europa gar nicht, aber die Kluft kommt trotzdem oft gut an und öffnet mir die Türen. Die meisten merken schon, dass ich nicht zum Spaß so rumlaufe, sondern dass die Klamotte einen Hintergrund hat. In Asien wird zum Beispiel großen Wert auf die Kleidung gelegt und dort sind die Menschen schon erstaunt und werden neugierig. Oder die Leute in Marokko, viele dort hassen die Hippie-Traveller, aber ich bin da aus dem Teetrinken gar nicht mehr rausgekommen.

Wenn man so lange unterwegs ist und so viele Menschen trifft...
Wird man zum Menschenfreund!

Ach, wieso?
Man wird offener und merkt: Alle Menschen sind gleich. Der Multimillionär jammert, weil er zu wenige Millionen hat, um für seine Kinder die Privatschule zu bezahlen – andere jammern, weil sie sich nicht mal die Schulhefte leisten können. Aber dass reiche Menschen doof sind, würde ein Wandergeselle nie behaupten. Wenn ich einen fetten Mercedes samt Anzugträger sehe, denke ich sofort: "Da kann ich mitfahren."

Du bist seit vier Jahren unterwegs. Hattest du jetzt vier Jahre lang keinen Sex?
Nee, ach Quatsch, natürlich! Frauen finden das ganz cool, was wir machen. Die wissen: Wenn ich mit dem Typ in der Kiste lande, ist der am nächsten Tag wieder weg und es gibt kein Gespräch. Das finden viele gut.

Aha.
Ja, da ist vielleicht auch so eine Aura von Abenteuer, die manche attraktiv finden. Andere denken sich wahrscheinlich auch: "Igitt, wann hat der das letzte Mal geduscht?" Aber eigentlich finden die Frauen das ganz aufregend. Man ist halt kein Langweiler.

Ein One-Night-Stand nach dem anderen macht ja vielleicht ne Weile Spaß, aber du bist ja schon lange unterwegs...
...Beziehungen sind ein ganz kritisches Thema. Wir nennen das "Sterntippelei". Also, wenn einer in Sternform um einen bestimmten Ort herumwandert: Geht dahin, kommt wieder zurück, geht dorthin, kommt wieder zurück. Das ist extrem verpönt, das mögen wir überhaupt nicht. Das gibt auch Ärger, wenn das jemand macht.

Was passiert dann?
Der kann sich einfach was am Tresen anhören von Leuten wie mir.

Trotzdem – war es für dich mal hart, eine Frau am nächsten Morgen wieder zu verlassen?
(Lange Pause) Ja. Aber: Pfff! Also, es ist mir dann egal. Weiter geht’s. Solange es keine Liebe ist, ist das alles in Ordnung. Und verliebt habe ich mich noch nicht.

Also keine Lust, sesshaft zu werden?
Doch, natürlich. Nach vier Jahren Rock’n’Roll hab ich jetzt schon mal die Schnauze voll. Irgendwann will man einfach wieder ein Bett, einen Kühlschrank, eine Dusche. Ich hätte keinen Bock, das mein Leben lang zu machen. Ich bin gerade auf Abschiedstour. Nach diesem Sommer höre ich auf mit der Wanderschaft.

Und dann? Geregeltes Einkommen und schmuckes Eigenheim mit Frau und Kind?
Hoffentlich.

* Hinweis: Der Protagonist wurde nachträglich anonymisiert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.