Mit dem Namen geht es schon los. Vom Theaterstück Vagina Monologues über die Beschreibungen in der Netflix-Serie Sex Education bis hin zur Alltagssprache: Die Vulva wird verschwiegen. So ist viel zu oft von der Vagina die Rede, wenn eigentlich das äußerlich sichtbare weibliche Geschlechtsteil gemeint ist, nämlich die Vulva.

Aber es ist eben nicht nur die Sprache, die fehlt, es ist auch das Wissen über dieses Körperteil. Sind in feministischen Kreisen mittlerweile Fakten rund um die Vulva Basiswissen, sieht es in großen Teilen der Bevölkerung noch anders aus. Und das betrifft nicht nur diejenigen, die nicht selber eine Vulva haben, sondern Frauen* selbst: Eine britische Krebshilfeorganisation machte zu dem Thema eine Umfrage und legte Frauen eine anatomische Grafik vor – wo genau die Vagina liegt, wusste nur die Hälfte der Frauen.

Bei vielen Mediziner*innen sind manche Fakten auch nicht bekannt.
Filmemacherin Denise Dismer

Und selbst denjenigen, die es qua Beruf wissen sollten, fehlt zum Teil Wissen rund ums weibliche Geschlechtsteil. Das ist zumindest die Erfahrung von Filmemacherin Denise Dismer. Sie hat für den Sender 3sat die Wissenschaftsdokumentation Vulva und Vagina – neue Einblicke in die weibliche Lust (in der Mediathek verfügbar) gedreht und im Rahmen ihrer Recherche festgestellt, wo es hapert: "Bei vielen Mediziner*innen sind manche Fakten auch nicht bekannt. Ich habe auch viele gefragt, die mir dann sagten, dass selbst Dinge wie die Größe der Klitoris oder weibliche Ejakulation im Studium einfach nicht vermittelt werden."

Dabei, und das war für Dismer das Erstaunliche bei den Dreharbeiten, ist es nicht so, dass dieses Wissen überhaupt nicht vorhanden ist: Es war schon da, werde uns aber vorenthalten.

Sehr eindrücklich belegt das der Biologe Daniel Haag-Wackernagel, den Dismer für ihre Doku interviewt hat. Haag-Wackernagel zeigt eine anatomische Zeichnung der Vulva aus dem Jahr 1844, vom deutschen Anatomen Georg Ludwig Kobelt, er nennt sie "absolut herausragend" und sagt: "Es gibt bis heute eigentlich nichts Besseres."

Man muss ja noch nicht mal etwas Neues erforschen, das Wissen war ja da.
Denise Dismer

Das Wissen liegt also eigentlich vor, aber es wird nicht vermittelt, Dismer konnte es kaum glauben: "Wenn man sich diese sehr genaue Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert anschaut und dann aktuelle Abbildungen aus Anatomiebüchern, wo die Klitoris wie eine Kidneybohne aussieht, kann das doch nicht sein! Man muss ja noch nicht mal etwas Neues erforschen, das Wissen war ja da."

Haag-Wackernagel hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Wissen weiter zu verbreiten. Er hat ein 3D-Klitorismodell entwickelt, mit dem er Gynäkolog*innen die Möglichkeit geben möchte, in Sprechstunden die weibliche Anatomie besser erklären zu können. Denn die Klitoris besteht eben nicht nur aus der sichtbaren Klitoriseichel ("Kitzler"), sondern aus Schenkeln und Schwellkörpern, die tief in den Unterkörper hineinragen. In beide Richtungen misst eine durchschnittliche Klitoris circa elf Zentimeter – sie ist damit zwei Zentimeter länger als der durchschnittliche Penis. Die wahre Größe der Klitoris wurde allerdings erst im Jahr 1998 von der Urologin Helen O'Connell gemessen und ist selbst unter Mediziner*innen zum Teil noch nicht bekannt.

Was ist normal?

Aber nicht nur verborgene Teile der Vulva sind wenig erforscht, auch über die äußerlich sichtbaren Teile der Vulva ist wenig bekannt. "Bekannt" im Sinne von: Was ist eigentlich normal? Denn ob die Farbe, Form und Größe ihrer Vulvalippen in Ordnung sind, scheint für Frauen* zunehmend zu einer Frage zu werden, die sie im Extremfall durch plastische Chirurgie beantworten lassen. Unwissenheit über die Erscheinungsvariationen der Vulvalippen und vermeintliche Idealbilder sorgen dafür, dass Vulvalippenverkleinerungen immer häufiger durchgeführt werden. Dabei können Komplikationen bei diesem Eingriff nicht nur in massiven Funktions- und Empfindungseinschränkungen resultieren, sondern es ist überhaupt nicht bewiesen, ob der Eingriff anhaltende psychische oder funktionelle Verbesserungen bewirken kann.

Eine größere Kenntnis über das "normale" Aussehen einer Vulva könnte also helfen. Davon ist auch der Gynäkologe Andreas Günther überzeugt, der in der Doku einige Ergebnisse seiner Vulva-Studie vorstellt. Ein Team von fünf Ärzt*innen am Kantonsspital Luzern hat dabei die Vulven von 657 Frauen vermessen – das macht die Studie zur bislang größten Vulva-Studie der Welt. Dabei stellten Günther und sein Team fest, dass es vor allem ein Merkmal von Vulven gibt: ihre Unterschiedlichkeit. Die von dem Team gemessenen äußeren Vulvalippen waren dabei von 1,2 bis 18 Zentimeter lang, die inneren zwischen 0,076  bis zu 7,62 Zentimetern. "Die Variation ist erheblich", meint Günther, "die Asymmetrie normal. Der Mensch ist nicht symmetrisch." Innere Vulvalippen könnten eine Breite von fünf Millimetern bis fünf Zentimetern haben – alles total normal.

Mehr Wissen über die Vulva

Es tut sich also etwas in der Erforschung des weiblichen Geschlechtsteils. Doch bis dieses Wissen umfänglich auch in die Ausbildung von Mediziner*innen einfließt, in Schulen gelehrt wird und für uns alle zum total normalen Standardwissen gehört, wird noch wohl noch viel Zeit vergehen. Das Wissen um die Vulva zu verbreiten, ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Aber auch eines, das möglichst früh losgehen sollte, wie Denise Dismer meint: "Wir müssen das Selbstbild von Frauen stärken und auch vieles hinterfragen, auch was unsere Sprache angeht. Wir wissen schließlich, wie schon kleine Kinder geprägt werden. Meine kleinen Söhne fragen mich zum Beispiel manchmal: 'Mama, warum hast du keinen Penis?' Und dann versuche ich ihnen zu vermitteln, dass mir nicht etwas fehlt, sondern das ich dafür 'etwas anderes' habe, nämlich eine Vulva."

Außerdem auf ze.tt: Eine Illustratorin zeigt, wie vielfältig schön Vulven sind