Eine Schulklasse nach der anderen erreicht das ehemalige Konzentrationslager in Polen. Über Kopfhörer hören sie vom Leid, von den Schmerzen, vom Tod. Dann stehen sie – manche erst zwölf, 13 Jahre alt – vor dem bekannten Tor: "Arbeit macht frei". Was die Worte bedeuten, mit wie viel Zynismus sie beladen sind und warum sie trotzdem gleichzeitig Hoffnung für die ankommenden Häftlinge bedeuteten, erklärt ihnen gleich zu Beginn der Museumsführer.

Ein Foto muss sein – aber kein Selfie

Einige Jugendliche zücken ihre Smartphones, machen Fotos voneinander. Sie lachen nicht, die Mundwinkel bewegen sich nur leicht nach oben. Dann eilen sie ihrer Gruppe hinterher, die schon bei der nächsten Station angekommen ist.

Silvia und Ana sind froh, dass gerade keine Schulklasse unter dem Tor steht. Sie haben den Trubel einige Minuten lang beobachtet. Auch die zwei Spanierinnen machen Fotos unter den drei Worten. Ana, 31, ist zuerst dran. Sie blickt jedoch nicht in die Kamera, sondern dreht sich zur Seite, schaut nach links: Stacheldraht.

Ana und Silvia tauschen Plätze, wie Staffelläuferinnen den Stab, übergeben sie sich die Kamera. Auch die 26-jährige Silvia stellt sich unter den Torbogen, ihre Freundin macht ein Foto. Doch Silvia steht mit dem Rücken zu ihr. Alles andere als ein typisches "been there – done that"-Bild.

#auschwitz

"Es geht mir um den Respekt vor dem, was hier passiert ist. Ich kann da nicht in die Kamera lächeln", sagt Silvia. Dennoch wollte sie eine Erinnerung, dass sie hier war. Auf Instagram oder Snapchat landet das Foto trotzdem nicht. Ihre Freundin Ana stimmt ihr zu. "Vielleicht bin ich auch zu emotional, aber ich verstehe nicht, wie Leute hier Selfies machen. Kind of creepy."

"Selfiesticks sehen bizarr aus"

"Es gibt auch respektlose Selfies. Man muss jedoch sehr vorsichtig sein, Leute dafür zu verurteilen. Dieser Ort, Auschwitz, lehrt einen, nicht zu einfach über andere zu urteilen", sagt er. Ihre Motivation hinter dem Foto lässt sich von außen nur schwer beurteilen.

So wie beim wohl berühmtesten Selfie, dem von "Princess Breanna", das Ende August 2014 einen Shitstorm bei Twitter erntete. Die junge US-Amerikanerin im pinken Hoodie lächelte in die Kamera, machte ein Foto von sich zwischen den Baracken, twitterte es – und erhielt sogar Morddrohungen.

Dabei wollte die junge Frau nur ihrem toten Vater gedenken.Social-Media-Betreuer Sawicki sagt dazu: "Es war nicht das erste und wird sicher nicht das letzte Selfie sein." Viele Medien hätten sich damals auf den Tweet gestürzt, ohne den Hintergrund zu kennen, beklagt er.

Die Gedenkstätte hat nichts gegen die Selbstporträts, solange die Besucher vorsichtig sind. "Wenn sie einen Selfiestick haben, sieht es schon bizarr aus. Doch auch hier gilt der Kontext, in dem Fotos gemacht werden", findet Sawicki.

Was heute Selfies auf Instagram, WhatsApp oder Snapchat sind, waren früher Postkarten. Ein kurzer Gruß aus dem Urlaub – "das Wetter ist gut, das Essen lecker, ich denke an dich."

Der Museumsshop bietet alle möglichen Postkartenmotive an. Das Eingangstor, daneben das "Judenrampe" genannte Gleis, auf dem Juden aus ganz Europa ankamen und selektiert wurden: Arbeitsfähig oder sofort in die Gaskammer. Eine Karte zeigt Blechdosen, in denen Zyklon B verpackt war. Mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel wurden in Auschwitz über eine Millionen Menschen vergast.

Die Überlebenden sind sich uneins

Grüße aus Auschwitz, schreibt das wirklich jemand? "Ja, viele Leute kaufen die Karten zum Verschicken oder zum Behalten. Andere nehmen sie als Lesezeichen", erzählt Agnieszka Mateja, die in dem kleinen Erinnerungsladen arbeitet. Viele Lehrer nehmen sie für ihre Schüler mit, aber auch junge Leute interessieren sich für die Karten.

Und was denken diejenigen, die das Konzentrationslager überlebt haben? Häftlinge durften zwei Briefe im Monat schreiben, auf Deutsch und von der SS streng zensiert. Der Satz "Ich bin gesund, mir geht es gut" musste auf jeden Fall drin vorkommen. "Wenn man eine Karte kauft, um sie als Erinnerung für sich zu behalten, finde ich das in Ordnung. Aber ich finde es nicht gut, wenn man sie als Gruß verschickt", sagt Zdzislawa Wlodarczyk, die als Zehnjährige aus Warschau nach Auschwitz deportiert wurde.

Sich vor dem Tor zu fotografieren, hält die Überlebende, heute 82 Jahre alt, nicht für richtig. So bleibt es am Ende jedem selbst überlassen, wie er oder sie sich an den Besuch der Gedenkstätte erinnert. Denn selbst die Zeitzeugen sind sich nicht einig, ob "Arbeit macht frei" als Fotomotiv dienen darf und in der Timeline neben Foodporn und Katzenvideos auftauchen sollte. Alina Dabrowska war 18 Monate politische Gefangene in Auschwitz. Die 92-Jährige sagt: "Ich denke, das ist normal. Es ist eine Möglichkeit, diese Sachen nicht zu vergessen und darüber zu erzählen."