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Stellt euch vor, ihr bekämt jeden Monat 800 Euro. Einfach so. Ohne Anträge zu stellen, ohne Offenlegung all deiner Besitzverhältnisse, ohne Rumhängen in der Warteschleife des Jobcenters. Davon könntet ihr die Miete für ein WG-Zimmer bezahlen und hättet noch genug Geld für Essen und andere Kleinigkeiten. In manchen Städten und Dörfern Deutschlands könnte man davon sogar komplett leben – wenn auch bescheiden.

Und dann könntet ihr plötzlich alles machen, was ihr schon immer wolltet: Ein Studium, ohne abends noch kellnern zu müssen. Ein Start-Up gründen und einfach mal schauen, wie es läuft. Eine Reise durch Asien, wo sowieso alles günstiger ist als bei uns. Oder Menschen helfen, die dringend Hilfe brauchen.

Klingt gut?

Her damit!

Finnland will dieses bedingungslose Grundeinkommen nun einführen. 800 Euro soll jeder erwachsene Bürger jeden Monat bekommen – steuerfrei, für alle, unabhängig von ihrem eigenen Einkommen. Bei 5,4 Millionen Einwohnern wären das rund 50 Milliarden Euro pro Jahr. Dafür werden Sozialhilfe und Arbeitslosengeld abgeschafft.

"Für mich bedeutet das Grundeinkommen, dass das Sozialsystem vereinfacht wird", sagte der finnische Ministerpräsident Juha Sipilä. Und er will damit die Wirtschaft ankurbeln. Finnland steckt seit drei Jahren in der Rezession. Juha Sipilä hatte zuerst versucht, Finnland auf dem harten Weg aus der Krise zu führen. Gehälter und Urlaubstage wurden gekürzt. Die Bürger reagierten mit Demonstrationen. Auch der Austritt aus dem Euro wurde diskutiert.

Was soll es bringen?

Mit dem Grundeinkommen will Sipilä nun einen anderen Weg gehen und vor allem die hohe Arbeitslosigkeit von neun Prozent reduzieren. Bisher ist es in Finnland ähnlich wie in Deutschland: Für Menschen, die Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe beziehen, lohnen sich manche Jobs einfach nicht, weil der Lohn für die Arbeit niedriger wäre als die Sozialhilfe. Bekommt aber jeder Bürger einfach so 800 Euro, dann könnten sich Arbeitslose mit schlecht bezahlten Jobs einfach Geld dazuverdienen, ohne dass dieses Einkommen von Sozialleistungen abgezogen wird.Arbeitgeber wiederum könnten mehr Leute einstellen und ihre Produkte günstiger anbieten und wären damit auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger. Das Grundeinkommen würde außerdem die Kaufkraft stärken, das bedeutet mehr Konsum, mehr Arbeitsplätze, mehr Steuern. Und das Grundeinkommen würde den Finnen Freiräume für eigene Ideen schaffen, für neue Unternehmen, die Umsatz machen und Steuern zahlen. Das jedenfalls ist der Plan.

Bisher ist noch nicht geklärt, ob auch nicht-finnische Bewohner Finnlands und Finnen im Ausland das Grundeinkommen erhalten. Für Menschen, die wegen Krankheit oder Alter bisher auf Mietzuschüsse und andere Sozialleistungen angewiesen waren, könnte das Grundeinkommen zudem höhere Armut bedeuten. Und in Gegenden mit hohen Mieten, wie etwa in Helsinki, werden 800 Euro nicht zum Leben reichen. Der Betrag liegt deutlich unter dem finnischen Durchschnittseinkommen von 3000 Euro pro Monat.

Wie bezahlt man das?

Angeblich würde die Reform Finnland Millionen Euro sparen. Wenn jeder bedingungslos ein Grundeinkommen bekäme, würde einiges an Bürokratie und Arbeitsaufwand wegfallen, was Geld spart. Sozialleistungen wir Arbeitslosengeld, Kindergeld oder Rente fielen weg und würden durch das Grundeinkommen ersetzt. Zusätzliche Steuererhöhungen werden sich allerdings nicht vermeiden lassen. Wie genau Finnland das Grundeinkommen finanzieren will, steht noch nicht fest. Ein entsprechender Gesetzesentwurf wird voraussichtlich erst im kommenden November vorgelegt.

Finnland wäre damit das erste Land, dass für alle Bürger ein bedingungsloses Grundeinkommen einführt. In einzelnen Dörfern und Städten in anderen Ländern gab es aber schon Versuche, mit einem Grundeinkommen die Situation der Menschen zu verbessern.

Wer hat es bis jetzt gemacht?

Zwischen 1974 und 1979 bekamen die ärmsten Bürger des kanadischen Städtchens Dauphin genug Geld, um bescheiden leben zu können. Das Grundeinkommen wurde ein voller Erfolg: Trotz dieser Zahlungen gingen die Menschen weiter arbeiten. Für jeden Dollar, den sie verdienten, wurden ihnen fünfzig Cent vom Grundeinkommen abgezogen – es gab also weiterhin einen Anreiz zum arbeiten.

Manche Bürger arbeiteten tatsächlich weniger als zuvor, nämlich Mütter von kleinen Kindern und Schüler. Die einen nutzten das Geld, um weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, die anderen hatten durch das Grundeinkommen mehr Zeit für Schularbeiten. Die Menschen gingen seltener zum Arzt, woraus man schloss, dass sie insgesamt gesünder waren. Mehr Schüler beendeten die High School. Dann rutschte das Land in eine Finanzkrise, der Ölpreis stiegt, eine neue Regierung kam an die Macht und das Interesse an dem Experiment und am bedingungslosem Grundeinkommen versiegte.

Im 930-Einwohner-Dorf Otjivero in Namibia erhielten 2008 alle Einwohner unter 60 Jahren ein Jahr lang ein Grundeinkommen von umgerechnet neun Euro pro Monat von Hilfsorganisationen ausbezahlt. In Deutschland entspräche das etwa 87 Euro, also nur ein Bruchteil dessen, was man jeden Monat zum Leben braucht. Trotzdem war das Grundeinkommen ein Erfolg.

Das Einkommen (nach Abzug des Grundeinkommens) stieg um durchschnittlich 19 Prozent, viele nutzten das Geld als Startkapital für eigene Geschäfte. Frauen fuhren zum Beispiel von dem Geld in die nächste Stadt und kauften Stoffreste, um Kleidung zu nähen, die sie dann wieder verkauften. Der Anteil extrem armer Einwohner sank von 70 Prozent auf 15 Prozent. Die Zahl polizeilich gemeldeter Delikte sank um 43 Prozent. Es konnten mehr Menschen zum Arzt gehen, Kinder waren deutlich besser ernährt und gingen häufiger in die Schule. Der Alkoholkonsum sank zwar nicht, er stieg aber auch nicht, obwohl mehr Geld für Alkohol da gewesen wäre.

Eine private Initiative verteilt trotzdem in dem brasilianischen Dorf Quatinga Velho umgerechnet etwa elf Euro aus Spenden an jeden Bewohner, wovon Familien mit vielen Kinder zum Beispiel Reis und Bohnen für einen Monat kaufen können. Ein arbeitsloses Leben ist damit nicht möglich, aber das soll es ja auch nicht sein. Im Gegenteil, das Geld sollte Menschen befähigen, mehr zu arbeiten. So legten Arbeiter in Quatinga Velho zum Beispiel ihr Geld zusammen und finanzierten sich einen Bus, um zur Arbeit auf weiter entfernte Plantagen zu fahren.

In einigen indischen Dörfern erhalten insgesamt rund 6000 Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen, das jeweils etwa ein Drittel des Lebensunterhalts deckt. Die Ergebnisse sind vielversprechend: Kinder sind besser ernährt und gehen häufiger zur Schule. Menschen gründeten eigene Geschäfte und kleine Unternehmen. Viele konnten ihre Schulden bezahlen. Gerade Frauen, Alte und Behinderte profitieren, weil sie auf diese Weise in der Familie und der Dorfgemeinschaft einen ähnlichen Status erhalten wie arbeitende Männer.

In Deutschland finanziert ein Internetprojekt via Crowdfunding ein Jahr lang ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1000 Euro. Immer wenn wieder 12.000 zusammengekommen sind, wird ausgelost, wer das nächste Grundeinkommen erhält. Bisher wurden 25 Menschen unterstützt. Einer von ihnen hat seinen Job im Callcenter aufgegeben und wird nun Erzieher. Eine von ihnen arbeitete schon vor dem Grundeinkommen in Teilzeit als Krankenschwester, um Zeit für ihre Kinder zu haben. Doch das Geld war immer knapp. Durch das Grundeinkommen kann die Familie nun in den Urlaub fahren und Bio-Lebensmittel kaufen.

2004 wurden in den Niederlanden 84 Gewinner einer Lotterie befragt, die lebenslang monatlich 1000 Euro erhielten, was einem bedingungslosen Grundeinkommen gleichkommt. Nur zwei von ihnen hatten ihren Job aufgegeben. Vier Menschen hatte ihren Arbeitszeit gesenkt und verbrachten dafür mehr Zeit mit ihrer Familie. Die Singles arbeiteten genauso viel wie vor dem Gewinn.

Verbessert sich dann die Gesellschaft?

Die Ergebnisse dieser Experimente beantworten schon eine der wichtigsten Fragen zum bedingungslosen Grundeinkommen: Was macht der Mensch mit dem Geld? Wird er sich zurücklehnen und tagträumen, denn das Konto ist ja ausgeglichen? Oder wird er zu Hochtouren auflaufen, Ideen entwickeln, basteln, tüfteln, planen, Neues erfinden, die Welt verbessern? Die Versuche in Kanada, Brasilien und anderen Ländern zeigen, dass die meisten Menschen das zusätzliche Geld nutzen, um weiterhin zu arbeiten, als Investition in ihr Geschäft oder um andere, bessere Arbeit zu suchen.

Das bedingungslose Grundeinkommen – wenn es denn finanzierbar ist – könnte auch in Deutschland Millionen Menschen helfen. Auch bei uns arbeiten viele unter prekären Arbeitsbedingungen – auch Akademiker. Sie haben befristete Jobs, arbeiten unfreiwillig als Selbstständige oder Freiberufler oder bekommen nur Teilzeitjobs. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde ihnen mehr Sicherheit geben und sie vor Ausbeutung schützen. Denn wer weiß, dass von Anfang an zumindest die Miete finanziert ist, kann selbstbewusster in Verhandlungen und Bewerbungsgespräche gehen.

Und Menschen, die das System von Arbeitslosengeld oder Hartz IV nicht verstehen, Formulare falsch ausfüllen oder Anträge nicht einreichen, würden nicht mehr zwangsläufig auf der Straße landen. Menschen mit mentalen Problemen, die Termine beim Jobcenter verpassen oder sich gar nicht mehr trauen, Briefe von Behörden zu öffnen, wären trotz allem abgesichert.

Die Vorstellung, dass jeder Bürger einfach so einen existenzsichernden Betrag überwiesen bekommt, klingt also verlockend. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte die Gesellschaft verändern, neue Energien freisetzen, zu mehr Teilhabe führen. Auch in Deutschland beschäftigen sich Initiativen seit Jahren mit der Durchführbarkeit eines Grundeinkommens. Die Schweiz will im kommenden Herbst ein Referendum dazu abhalten, ob auch dort ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird. Im niederländischen Utrecht sollen Arbeitslose schon ab Januar 2016 ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten. Wenn das Experiment in Utrecht und die Reform in Finnland ein Erfolg wird und die Schweizer für das Grundeinkommen stimmen, könnten andere europäische Länder nachziehen.

Update, 10. Dezember: Ob das bedingungslose Grundeinkommen in Finnland tatsächlich eingeführt wird, ist noch nicht entschieden. Zunächst soll in Finnland ein Pilotversuch gestartet werden, bei der Studienteilnehmer 550 Euro erhalten, Sozialleistungen werden aber weiter gezahlt. In einem weiteren Schritt würden dann 800 Euro ausbezahlt und die Sozialleistungen gestrichen. Die finnische Sozialversicherung will entsprechende Pläne im November 2016 vorlegen, der Pilotversuch könnte dann 2017 beginnen. Knapp 70 Prozent der Finnen sprachen sich in einer Umfrage für das bedingungslose Grundeinkommen aus. In der Schweiz sind es deutlich weniger – nach einer nicht repräsentativen Umfrage spricht sich nur knapp die Hälfte für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus.