Warnung: In diesem Text wird sexueller Missbrauch thematisiert. Das kann für einige Leser*innen emotional belastend sein. Falls du Opfer sexuellen Missbrauchs geworden bist, findest du am Ende des Textes eine Liste von Hilfsangeboten.

Winnie M Li spricht mit tiefer Stimme US-amerikanisches Englisch, während sie in einem Londoner Parkcafé mit einem Löffel Kaffee und Sojamilch vermischt. "Es ist unglaublich persönlich, was ich nach draußen gebe", sagt sie über die Veröffentlichung ihres Buches. "Aber ich hatte das Gefühl, dass es notwendig war, um zu erreichen, was ich wollte: die Erfahrung einer Vergewaltigungs-Überlebenden zu zeigen und zu verdeutlichen, wie fundamental ein Leben von einem solchen Gewaltakt beeinflusst wird", sagt sie.

Sie hat ihr Leben nun diesem Zweck gewidmet, dem Kampf gegen sexuelle Gewalt und der Hilfe für Opfer. Dafür hat sie nicht nur ein Buch geschrieben, sondern promoviert an der Eliteuniversität London School of Economics and Political Science über Medien und sexuelle Gewalt. Zudem hat sie mit dem Clear Lines Festival einen Platz für Dialog über sexuelle Gewalt und Konsens geschaffen.

Besonders betroffen sind Frauen zwischen 18 und 29 Jahren

Damit geht Winnie ein weit verbreitetes Problem an. Laut einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte zu Gewalt gegen Frauen hat jede dritte Frau seit dem Alter von 15 Jahren "eine Form des körperlichen und/oder sexuellen Übergriffs erlebt". Allein bei der Beratungsstelle Frauennotruf in Frankfurt am Main meldeten sich im Jahr 2016 624 Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen waren, bei 156 von ihnen war eine Vergewaltigung versucht oder durchgeführt worden.

Besonders betroffen von sexueller Gewalt seien laut der EU-Studie junge Frauen zwischen 18 und 29 Jahren, Altersgrenzen hat diese Nötigung jedoch nicht. Die Studie ruft zu Aufklärungsarbeit für Mädchen und Frauen auf. Winnie beschränkt ihre Arbeit nicht nur auf Frauen. Sie sieht, dass sexuelle Gewalt nicht nur Frauen trifft und dass es nicht reicht, nur mit Frauen darüber zu reden. Auch Männer sollen in den Dialog miteingeschlossen werden.

Doch wie schreibt man ein Buch über Vergewaltigung und demonstriert die Notwendigkeit zu Konsens? Winnie M Li hat dafür eine bisher ungewöhnliche Methode gewählt. Das Buch ist kein Thriller, bei dem das Opfer stirbt und unbekannt bleibt, es ist auch nicht einfach die Geschichte einer Überlebenden. Winnie M Lis Dark Chapter beleuchtet sowohl die Geschichte ihres Alter-Egos Vivian, als auch die ihres Vergewaltigers.

"Es war wichtig für mich, das, was geschehen war, abzuschließen", sagt sie, "und Schreiben hat mich schon immer dazu befähigt, die Welt besser zu verstehen." Winnie wollte nachvollziehen, warum sie Gewalt erfahren musste. "Von dem Moment, in dem ich ihn kennenlernte, wusste ich, dass wir aus sehr unterschiedlichen Welten kamen", erzählt sie und meint damit, dass der Täter zum fahrenden Volk gehört, einer stark stigmatisierten Gruppe in Irland, wo die Gewalttat stattfand.

Keine Entschuldigung, nur Erklärung: Gewalt in der Vergangenheit

Bei der Betrachtung von zwei Seiten hat sie die Privatsphäre des Täters respektiert. Der Junge im Buch ist komplett ausgedacht, nur das Umfeld stimmt. Ihre Recherchen brachten sie in seine Heimat und zeigten ihr die Umgebung, in der er aufwuchs. Sexuelle Gewalt, Gewalt gegen Kinder und kaum eine Spur von Konsens und respektvollem Miteinander kamen dabei heraus. Während das Winnie half, die Hintergründe der Tat zu verstehen, bedeutet das nicht, dass sie ihrem Täter vergeben hätte oder ihn ohne Schuld sieht.

Während die Freund*innen der 38-Jährigen sich in stabilen Beziehungen befinden, Kinder kriegen und Eigenheime kaufen, ist sie single und bedauert, fünf Jahre ihres Lebens wegen des Angriffs verloren zu haben."

Dafür war das Verbrechen zu groß. Um die Vergewaltigung verarbeiten zu können, musste Winnie hart und lange arbeiten. Sie erreichte ihr Ziel nicht ohne Opfer. Eines davon: ihre Karriere. Schon jetzt wird ihr Buch von Kritiker*innen gelobt, sie schreibt für große Zeitungen und sie promoviert an einer der besten Universitäten der Welt. Doch sie arbeitet nicht mehr als Filmproduzentin. Während die Freund*innen der 38-Jährigen sich in stabilen Beziehungen befinden, Kinder kriegen und Eigenheime kaufen, ist sie single und bedauert, fünf Jahre ihres Lebens wegen des Angriffs verloren zu haben.

Ganz erholt man sich von einem solchen Trauma nie

"Ich habe das Gefühl, dass ich mich größtenteils von der Vergewaltigung erholt habe, dass ich funktioniere und mein Leben wieder beieinander habe. Aber ja, ich glaube nicht, dass man sich je vollständig von einem solchen Trauma erholen kann", sagt sie bestimmt. In ihrer Stimme schwingen Stolz über das Erreichte und Stärke, die sie von dem Verbrechen abgrenzt, mit. Wut hört man nicht, wenn sie erzählt. "Ich war manchmal wütend, aber ich hatte immer das Gefühl, dass dies nicht das produktivste Gefühl ist, das man haben kann, denn, weißt du, wenn du dich vom Ärger konsumieren lässt, ist das sehr destruktiv."

Diesen Pragmatismus scheint sie auch während der Tat gehabt zu haben. Winnie war zu der Zeit 29 Jahre alt, hochgebildet und eine Karrierefrau. Sie war darüber aufgeklärt worden, wie man sich bei aufdringlichen Männern verhält, hatte schon zahlreiche Male mit Sexismus zu kämpfen gehabt – auch wegen des gesellschaftlichen Stigmas um ihre asiatische Herkunft – und schien am Ende dann doch alles immer noch unter Kontrolle zu haben. Bis sie dann das eine Mal im irischen Park demonstriert bekam, dass die Macht darüber gar nicht bei ihr lag.

Die psychischen Wunden heilen nur langsam

Der Junge hatte sie nach dem Weg gefragt, war ihr lange gefolgt und hatte sich wegschicken lassen, als es ihr zu unangenehm wurde. Doch daraufhin folgte er ihr einfach unbeobachtet, bis er sie an einer verlassenen Stelle überfiel. Er schlug auf sie ein, wirkte nicht mehr wie 15 und Winnie bekam das Gefühl, dass er sie umbringen würde, täte sie nicht, was er von ihr verlangte. Sie wollte leben, also versuchte sie alles über sich ergehen zu lassen. Würgemale, blaue Flecken, kaputte Kleidung und Verletzungen am ganzen Körper waren eine Folge davon.

Das Wichtigste für meine Erholung war, dass meine Freunde mir glaubten."

Während die körperlichen Wunden bald wieder unsichtbar waren, blieben die psychischen Folgen eine ganze Weile präsent. Posttraumatische Belastungsstörung und Depressionen verfolgten sie. Aber sie hat es aus diesem Zustand herausgeschafft. "Das Wichtigste für meine Erholung war, dass meine Freunde mir glaubten. Sie waren unglaublich hilfsbereit. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt schon erwachsen genug, um zu wissen, das nichts von der Tat meine Schuld war", erklärt sie. Sie konnte direkt nach der Tat eine Freundin verständigen und sich an die Polizei wenden. Damit hat sie nicht nur sich geholfen, denn sexuelle Gewalt bleibt meist kein Einzelfall. Wiederholungstäter*innen gibt es viele.

Wichtig für ein Vorankommen sind offene Kommunikation und Konsens

Auch deshalb führt Winnie ihren Kampf weiter. Sie wünscht sich einen offenen Dialog, damit nicht noch mehr Frauen und Männer ihr Schicksal teilen müssen. Ihr selbst hatte nach der Tat nämlich auch geholfen, dass andere Überlebende ihre Erlebnisse als Memoiren aufgeschrieben hatten: "Im Jahr nach der Vergewaltigung waren diese Geschichten sehr hilfreich, weil sie mir halfen, zu realisieren, dass ich nicht allein war, dass andere das auch hatten durchmachen müssen und dass sie sich davon erholt hatten."

Einen generellen Rat für eine erfolgreiche Genesung gebe es nach einer Vergewaltigung nicht, die Beratungsstelle Frauennotruf in Frankfurt am Main empfiehlt deshalb individuelle Schritte. Jedoch sei die Medizinische Soforthilfe hilfreich: "Viele Frauen haben danach mit Ängsten zu kämpfen, auch bezüglich Krankheiten, Verletzungen. Sie haben Schmerzen. Da ist es dann auch heilsam, das abzusichern. Außerdem haben die Frauen dann noch die Möglichkeit, sich zu überlegen, ob sie es anzeigen wollen oder nicht", erklärt Nina Auth von der Beratungsstelle.

Doch sie weiß, dass viele Frauen nicht oder nicht gleich Anzeige erstatten wollen. Denn häufig sind Täter*innen zum Beispiel aus dem privaten Umfeld. Nina Auth erklärt: "Frauen sollten nach einer Vergewaltigung mit jemandem sprechen. Am sinnvollsten ist das mit Fachberatungsstellen oder mit Psychologen. Natürlich ist es wichtig auch im Umfeld zu reden, zum Beispiel im Fall von Angstattacken, aber man braucht professionelle Hilfe. Sie sollten auf jeden Fall gucken, dass sie sich beraten lassen."

Frauen sollten nach einer Vergewaltigung mit jemandem sprechen."

Winnie hat das Hilfsangebot für sich genutzt und konnte so genesen. Ihr Buch, das jetzt schon auf Englisch erhältlich ist und kommendes Jahr in Deutschland erscheint, ist voller Kraft und Mut. Es zeigt, dass der Wille zum Leben größer sein kann als ein grausamer Akt. Sie gibt Hoffnung, nicht aufzugeben und macht klar, warum Konsens zur Gesellschaft dazu gehören sollte: "mit ungewollter sexueller Aufmerksamkeit weiß man nie, in welche Richtung sie gehen kann – sie kann harmlos sein, oder eben nicht."
Hol dir hier Hilfe

Bist du selbst Opfer sexueller Gewalt geworden und weißt nicht, an wen du dich wenden kannst? Hier findest du eine Datenbank mit bundesweiten Hilfsangeboten. Möchtest du lieber mit jemandem persönlich sprechen, kannst du zum Beispiel beim Hilfetelefon unter: 08000 116 016  rund um die Uhr jeden Tag kostenlos anrufen. Hier kannst du auch mit Expert*innen chatten und dich beraten lassen oder einfach nur deine Sorgen loswerden.