Auf den Plakaten der Demonstrierenden steht "Schande", "Schämt euch!" Auf anderen war zu lesen: "Lieber mit Nazis regieren als gar nicht". Dieser Spruch ist eine Anspielung auf die Rede des FDP-Parteichefs Christian Lindner zu den gescheiterten Sondierungsgesprächen nach der Bundestagswahl im Jahr 2017. Damals hatte Lindner mit dem Slogan "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" die Bildung einer Jamaikakoalition abgebrochen.

Nazis, das sind in den Augen der Demonstrierenden die AfD-Politiker*innen im Thüringer Landtag. Einige von ihnen hatten den FDP-Politiker Thomas Kemmerich gewählt und ihn so zum Thüringer Ministerpräsidenten gemacht. Der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke), der eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung in Thüringen bilden wollte, verfehlte zunächst wie erwartet in den ersten beiden Wahlgängen die absolute Mehrheit. Daraufhin ließ sich im dritten Wahlgang Thomas Kemmerich aufstellen. Hier reichte eine einfache Mehrheit für den Sieg. Für den FDP-Politiker dürften neben den Abgeordneten seiner Partei und denen der CDU auch AfDler gestimmt haben. Deren eigener Bewerber Christoph Kindervater erhielt zumindest keine Stimme.

Gegen diesen Vorgang waren bereits wenige Stunden nach der Wahl in vielen Städten Thüringens, aber auch in Berlin, Hamburg oder München spontan Menschen auf die Straßen gegangen.

"Wer hat uns verraten? Freie Demokraten"

Wie der MDR berichtet, versammelten sich unter "Wer hat uns verraten? Freie Demokraten"-Sprechchören bereits am Mittwochnachmittag nach Polizeiangaben kurzfristig mehr als 100 Menschen vor dem Erfurter Landtag, in dem kurz zuvor die umstrittene Wahl Kemmerichs zum neuen Thüringer Ministerpräsidenten stattgefunden hatte. Der Spruch ist angelehnt an den Ausruf "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!", mit dem Die Linke bis heute kritisiert, die SPD habe bei der Novemberrevolution 1918 einen echten sozialistischen Umsturz verhindert.

Später demonstrierten rund 1.000 Teilnehmer*innen vor der Staatskanzlei. Dort bildeten sie eine Menschenkette um das Gebäude. Der ehemalige Staatskanzlei-Chef der rot-rot-grünen Landesregierung, Benjamin-Immanuel Hoff (Die Linke), erinnerte daran, dass vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus bürgerliche Kräfte in Thüringen der NSDAP zur Macht verholfen hatten.

Proteste auch in München, Köln und Berlin

Neben weiteren Protesten in anderen Thüringer Städten wie Jena, Gera, Weimar und Gotha formierte sich unter anderem auch auf den Straßen Münchens, Kölns, Hamburgs und Berlins Protest gegen die Wahl Kemmerichs. In Berlin versammelten sich nach Polizeiangaben Demonstrierende "im hohen dreistelligen Bereich" vor den Parteizentralen von CDU und FDP. Die Demonstrantin Charlotte, 25, hat die Abstimmung in Thüringen verfolgt. "Ich war schockiert, als nach der Wahl des Ministerpräsidenten CDU, FDP und AfD direkt noch einmal zusammen gestimmt haben", sagte sie gegenüber ZEIT Online.

Die 25-jährige Studentin hofft nun, dass es in Thüringen zu Neuwahlen kommt. "Aber meine größte Befürchtung ist, dass der Ministerpräsident jetzt sagt: Na gut, wenn mich SPD und Grüne nicht unterstützen, dann nehm' ich halt die AfD, auch wenn ich sie nicht will."

Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Artikels sprachen wir von fünf abgegebenen Stimmen der AfD an Thomas Kemmerich. Diese Behauptung ist nicht korrekt und wurde daher entfernt.