Tolle Brille, prima Foto, schöne Haare, genialer Vortrag: Wenn es nach Psycholog*innen, Smalltalk-Expert*innen und Selbstoptimierungsgurus ginge, sollte ich so etwas noch viel öfter hören. Und sagen. Am besten ständig. So ein Kompliment tue nämlich nicht nur der Person gut, an die es sich richtet, sondern auch der, die es ausspricht. Und es verstärke unsere sozialen Bindungen. Ist klar: Wer lieb zu uns ist, wird gemocht. Da spielt es auch schon fast keine Rolle, dass all das Lob oft genug nichts mit unserem tatsächlichen Aussehen oder unserer Leistung zu tun hat, sondern nichts weiter als ein gut gemeinter Konversationsversuch ist. Macht nichts, wirkt trotzdem.

Ich persönlich war in meinem Komplimentierverhalten zwar immer ehrlich, aber zugegeben inflationär im Gebrauch. Mir ihrer Wirkung voll und ganz bewusst, ballerte ich mit ihnen umher, als ob ich eine Konfettikanone in meinem Rachen versteckt hätte. Und feierte auf der anderen Seite ab, wenn jemand meine unterschwelligen Zweifel an meiner Brillanz, Schönheit oder geschmacklichen Versiertheit zerschlug. In diesen Momenten war ich mir sicher: Wenn er*sie schon sagt, wie mega ich bin, dann wird das auch stimmen. Und wartete darauf, es wieder zu hören. Und wieder. Und wieder.

Denn Lob motiviert zwar zunächst, macht aber auch abhängig – und wie schnell man abschmiert, bleibt die Anerkennung plötzlich aus, hat jede*r von uns schon mal erlebt. Solange dein*e Liebste*r dich für deine ach-so-außergewöhnliche Schönheit feiert, fühlst du dich fantastisch. Doch verlässt er*sie dich für eine*n andere*n, wirst du emotional garantiert wieder in die Zeit zurückversetzt, als man sich noch über deine Pubertätsakne lustig machte. Und bist du daran gewöhnt, von deinen Kolleg*innen für deine Arbeit gelobt zu werden, und sie hören plötzlich damit auf, hämmert der Satz ,Was habe ich bloß falsch gemacht?' hundertpro nächtelang in deinem Kopf.

Wer Komplimente macht, bewertet

Das Problem am Kompliment: Es ist nichts anderes als eine Bewertung. Genauso gut könnte es nämlich auch lauten: geschmacklose Brille, hässliches Foto, bescheuerte Haare, beschissener Vortrag. Das allerdings sind dann Dinge, die wir meist nur denken oder denen wir allerhöchstens hinter dem Rücken des*der Betroffenen oder im Schutz des Netzes freien Lauf lassen. Denn nett sein, haben wir gelernt, das geht nun wirklich anders. Warum aber sollte die eine Art zu bewerten besser sein als die andere? Beides setzt voraus, dass wir einander beurteilen. Und ganz ehrlich: Ich habe absolut keinen Bock mehr darauf.

Bleib doch einfach mal bei dir selbst

Ich habe keinen Bock mehr darauf, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob dir deine Frisur gut steht oder, ob mir dein neues Sofa gefällt. Weil es deine Frisur und dein Sofa sind, und ich darüber nicht zu urteilen habe. Genauso wenig, wie du über meine Brille, meine Achselhaare, meinen Lebenswandel. Ja, nicht mal über diesen Text.

Und vielleicht machst du ja mit, wenigstens dieses eine Mal, und schreibst keinen Kommentar darüber, was die Lewina wieder für hirnverbranntes oder kongeniales Zeug produziert hat. Sondern darüber, was dieser Artikel mit dir zu tun hat, was er mit dir macht, was er in dir auslöst. Ohne auch nur ein einziges Psychologieseminar in meinem Leben besucht zu haben, kann ich dir versprechen: Das wird dich viel weiter bringen als eine Million Komplimente. Denn egal, ob aktiv oder passiv, ob positiv oder negativ – Bewertungen werden uns nie glücklich machen können. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit uns und unseren Gefühlen hingegen schon.