Eigentlich wollte ich nur ein Glas Rotwein trinken. Mittlerweile war ich beim Dritten angelangt, vielleicht auch beim Vierten. Es war auf jeden Fall genug. Genug, um mal wieder an J. zu denken. J., mit dem es so toll, aber leider nur kurz so toll gewesen war. Und das war nicht etwa zwei Wochen her, auch nicht zwei Monate. Es war zwei Jahre her. Aber egal. Denn der Rotwein und ich, wir waren uns auf einmal so sicher: J., oh mein J., der wär’s gewesen. Mehr Rotwein, ganz klar.

Das große Bedauern

Doch das Bedauern über den*die, der*die es gewesen wäre, schleicht sich nicht nur dank Rotwein und Co. in unser Bewusstsein. Es ist ein geschmeidiges, ein findiges Bedauern. Eines, das uns jederzeit erwischen kann. Nachts im Bett, morgens in der U-Bahn, mitten in einer Vorlesung. Alles schon erlebt. Es ist die attackierende Katze unter den Gefühlen. Es kommt aus heiterem Himmel, mit ausgefahrenen Krallen. Und ehe man sich versieht, hängt es einem im Nacken.

Manchmal attackiert es auch vis-à-vis. Man sitzt mit Freund*innen zusammen, plaudert, und wenn es dann um die Liebe geht, kann man sich als Single oft genug schon auf diesen einen Satz einstellen: "XY, der*die wäre es doch gewesen." Man hätte so gut zusammengepasst, man sei sich doch so ähnlich, man sei quasi wie füreinander gemacht. Kurzum, wie es im Englischen so treffend heißt: Er*sie sei the one that got away. Der*die, mit dem*der es einfach nicht hat sein sollen.The one that got away. Als Gedanke ist diese Idee erst mal ein klein wenig süß, dann aber zuverlässig schmerzhaft. Denn

the one ist schließlich weg; man sieht vor dem geistigen Auge die große Liebe nur noch von hinten, wie sie im Gedächtnisnebel von dannen zieht.

Existenzielle Lücke oder doch nur Geste der Erschöpfung?

Dabei ist the one mehr als nur eine Anekdote fürs Tagebuch. In den Momenten, in denen uns dieses Bedauern anfällt, fühlen wir es auch als existenziellen Verlust, als echte Lücke. Wir sind Single, vielleicht gerade frisch enttäuscht, müde vom Daten, und the one wird schöner und wunderbarer, als er*sie je war. Wir können ihn*sie ja auch formen, wie es uns in den Kram passt. Widerspruch ist nicht zu erwarten. Dafür wird unser Leben theoretisch so viel besser. Wir müssten the one nur irgendwie wieder von uns überzeugen.

Und da könnte man schon merken, dass diese ganze Sache mit the one vielleicht doch mehr als einen Haken hat. Denn wenn wir anfangen, dieser Person hinterherzutrauern, gehen wir vor allem vor einem Ideal in die Knie, das tief in uns verankert ist. Nämlich dem Glauben an die große, einzigartige Liebe. Die eine Chance, die sich im Leben bietet.

Dabei ist der Glaube an diese eine Person, die es auf jeden Fall gewesen wäre, ungefähr so nachhaltig wie der Glaube an den Weihnachtsmann. Schöne Geschichte, keine Frage, aber durch neuerliche Beschwörung wird sie auch nicht echter. Stattdessen sorgt dieser Glaube nur dafür, dass wir uns in einer Vielzahl von "Was wäre wenn’s" ergießen. Kann man machen, aber dann wird man halt auf Dauer unglücklich.

Es geht auch ohne the one

Klar, es gibt bestimmt Menschen, die wir im Leben getroffen und dann irgendwie verpasst haben. Das Gleiche gilt für so vieles, was einem im Leben widerfährt. Aber wenn es um die Liebe und potenzielle Partner*innen geht, wird der verpasste Mensch auf einmal richtig tragisch. Denn von der Liebe erwarten wir immer noch viel mehr als vom Job oder von unseren Freund*innen. Von der Liebe möchten wir ganz gemacht werden (mindestens), sie soll Lücken schließen und unserer Zukunft einen Drall geben. Der Liebe hängen wir all diese Erwartungen wie ein Wagenrad um den Hals und wundern uns, dass sie dabei keine Luft mehr bekommt.

Dabei müssen wir das mit dem Leben schon selber bewerkstelligen. Das wissen wir zwar (eigentlich), aber der Glaube an the one kann diese Erkenntnis manchmal verstellen. Auch weil the one eben keine echte Person ist, sondern immer das, was wir gerne hätten. The one ist auch eine Art Imago.

Mit Imago bezeichnet man in der Psychoanalyse das Vorstellungsbild einer Person, wie es in unseren Gedanken existiert. Völlig unabhängig davon, wie die konkreten Begegnungen mit dieser Person aussehen. Als Imago bezeichnete man in der Antike auch die Wachsmasken, mit denen Leichen auf dem Forum Romanum ausgestellt wurden. Damit die Verwesung überdeckt werden konnte.

Vielleicht hilft uns ja diese Vorstellung, the one that got away als das zu sehen, was es ist: eine traurige, aber vielleicht auch eine schöne Erinnerung. Nicht mehr, nicht weniger.