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In Deutschland geben die Alten den Ton an. Das äußert sich nicht nur in der Politik, wenn konservative Lager YouTuber*innen oder Schüler*innen ihr Urteilsvermögen absprechen. Das Ungleichgewicht der Generationen drückt sich ebenso im hiesigen Unterhaltungsprogramm aus. Babylon Berlin, Ku’damm 56 und 59, 4 Blocks, Dogs of Berlin, Bad Banks, nach wie vor peilen die Macher*innen von Serien vorrangig den Mainstream und somit ein mehrheitlich älteres Publikum an. Deshalb behandelt die typisch deutsche Serie vorzugsweise einen Kriminalfall oder eine Episode der facettenreichen deutschen Geschichte. Lieber moderat, statt überbordend witzig. Und damit wirklich jede*r das Erzählte versteht, verzichten die Macher*innen optisch auf künstlerische Experimente.

Die Macher*innen von How to Sell Drugs Online (fast) wagen den Bruch mit vielen dieser Serientraditionen. Allein der Handlungsort der dritten deutschen Netflix-Produktion ist noch einer, den der Mainstream versteht: Rinseln, eine fiktive Kleinstadt. Wer kann, zieht aus Rinseln fort. Wer bleibt, lebt das beschauliche Leben der Durchschnittsgesellschaft: Eigenheim, gepflegter Vorgarten, Eltern in unglücklichen Ehen. Die Protagonist*innen besuchen eine Schule, wie jede*r sie kennt: Reclam-Lektüre, Overheadprojektor, Turnhalle mit Laminatboden.

Doch sowohl die Erzählperspektive als auch der Erzähstil der sechs Folgen umfassenden ersten Staffel, sind für deutsche Serien untypisch. Die Protagonist*innen leben im Jetzt. Sie gehören der Generation Z an. Teenager, kurz vor dem Abi, die Arbeit nicht als Lohnerwerb, sondern als Selbstverwirklichung verstehen; die ihre Identität selbstverständlich auch auf Instagram finden und behaupten müssen. Sie spaßen auf dem Schulflur mit Face-Swaps herum, stellen Penisse im 3D-Drucker her, kommunizieren über Discord und zocken Dota und No Man's Sky. Viele Szenen kommen ohne gesprochenen Dialog aus. Stattdessen ploppen Feeds auf, legen sich Sprachnachrichten über das Bild, Werbebanner, Ladebalken, Codezeilen. Die Macher*innen verschwenden keine Zeit damit, diese Motive zu erklären. Wer der Generationen Z angehört, wird all das verstehen. Die viel Älteren müssen bei How to Sell Drugs Online (fast) sehen, wie sie den Anschluss finden.

So viel Mut ist bemerkenswert und vermutlich nur möglich, weil Netflix für die Serie bezahlt und kein deutscher TV-Sender.

Der Gen-Z erstmals ganz nah

Gut, als uneingeschränkt auf die Gen-Z zugeschnitten lässt sich How to Sell Drugs Online (fast) nicht bezeichnen. Hier und da merkt man der Serie an, dass ihre Macher*innen nicht mehr der Generation angehören, deren Geschichte sie erzählen. Wenn zum Beispiel eine der Teenager*innen vorm Klub eine schmalzige Rede über carpe diem hält. Oder, am eindrücklichsten, beim prominentesten Cameo-Auftritt der Staffel. Protagonist Moritz zieht mit seinem Kumpel Lenny einen Drogenhandel im Darknet auf, darum geht es vordergründig in der Serie. Um das Darknet zu erklären, haben die Macher*innen ausgerechnet US-Schauspieler Jonathan Frakes engagiert. In der Kulisse von X-Faktor: Das Unfassbare, Frakes moderierte die Mystery-Sendung von 1998 bis 2002, erzählt er, wie Datenpakete zwischen Knotenpunkten hin und her geleitet werden. Auch der einleitende Witz "Hier kommt eine Erklärung für vor 1990 Geborene von jemandem, den ihr kennt" kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier vor 1990 Geborene unbedingt eine geliebte Fernsehgröße vor die Kamera kriegen wollten.

Abseits ein paar holpriger Strecken reift mit jeder der circa 30-minütigen Folgen allerdings das Gefühl, dass sich hier ein neues Serien-Superteam zusammengefunden hat. Eines, dem es möglich ist, die deutsche Serienlandschaft wenn nicht zu revolutionieren, dann wenigstens zu innovieren. Hinter How to Sell Drugs Online (fast) steckt die Kölner bildundtonfabrik, die für Böhmermanns Neo Magazin Royale oder die Docupy-Dokus verantwortlich ist. Die Autoren Philipp Käßbohrer, Sebastian Colley und Stefan Titze haben einen Comedy-Background und bringen wohl auch dank ihrer Verbindungen zu den Rocketbeans, der Podcast- und Musikvideowelt einen modernen Blick aufs Geschichtenerzählen mit.

Und diesem Serien-Superteam gelingt in Folge vier das Unwahrscheinliche. Eine Collage zeigt die Protagonist*innen allein vor ihren Rechnern sitzen. Sie spielen, plaudern, kommen ins Sinnieren über das Leben. Sie teilen ihre tiefsten Gedanken nicht mit ihren Freund*innen, sondern mit teilweise unbekannten Menschen im Netz. Einer mit Liebeskummer, eine mit Zukunftsangst, einer mit Todesangst. Dazu heben Raumschiffe ab, Soldat*innen feuern aufeinander, Mark Zuckerberg stellt die Frage, was Identität heute bedeutet, was Leben heute bedeutet. Der Soundtrack von Konstantin Gropper, alias Get Well Soon, mischt dezent Pathos hinzu. So fern wie in diesem Moment schien der Mainstream in deutschen Serien nie und so nah kam eine deutsche Serie der Lebens- und Gedankenwelt der Generation Z ebenfalls noch nie.

Womöglich kommt sie der Gen-Z auch nur so nah, wie Um-die-Dreißigjährige glauben, was nah ist. Aber für deutsche Serienverhältnisse ist das ein Meilenstein.