Auf seinem Blog und seiner Facebook-Seite "Humans of New York" sammelt Brandon Stanton normalerweise die persönlichen Geschichten ganz gewöhnlicher und doch besonderer New Yorker Bürgerinnen und Bürger. Nun war der Fotograf in Europa unterwegs und hat auf seiner Reise mit Flüchtlingen gesprochen. In einer Beitragsreihe stellt er einige von ihnen vor und lässt sie in ihren Worten von ihrem Schicksal erzählen.

"Zusammen genommen sind diese Migranten Teil einer der größten Völkerwanderungen der modernen Geschichte," schreibt Stanton. "Aber ihre Geschichten bestehen aus einmaligen Tragödien." Es gebe Millionen Gründe, sein Zuhause zu verlassen. Und es gebe Millionen unterschiedliche Leiden, denen Flüchtlinge auf der Suche nach einem neuen Zuhause begegnen.

Wir haben drei der Geschichten ausschnittsweise übersetzt.

Wir sind geschwommen so lange wir konnten

"(...) Der Schmuggler hat 152 von uns in ein Boot gesteckt. Als wir das Boot sahen, wollten viele von uns wieder umkehren, aber er sagte uns, dass wir unser Geld dann nicht zurückbekämen. (...) Als wir auf dem Meer waren, stießen wir gegen einen Fels, aber der Kapitän meinte, wir sollten uns keine Sorgen machen. Wasser strömte in das Boot, aber er sagte nur erneut, dass wir unbesorgt sein sollen. Wir waren im Unterdeck, das anfing, mit Wasser vollzulaufen. Es war zu eng, um sich zu bewegen. Alle begannen zu schreien. Wir waren die Letzten, die noch lebend herauskamen. Mein Ehemann hat mich durch eines der Fenster gezogen. Im Meer hat er seine Rettungsweste ausgezogen und sie einer Frau gegeben. Wir sind so lange wir konnten geschwommen. Nach mehreren Stunden sagte er mir, dass er zu müde zum Schwimmen sei und dass er auf seinem Rücken treiben und sich erholen würde. Es war zu dunkel, um irgendetwas zu sehen. Die Wellen waren hoch. Ich konnte hören, wie er nach mir rief, aber er trieb weiter und weiter weg. Schließlich fand mich ein anderes Schiff. Meinen Ehemann haben sie nie gefunden."

Du bist jetzt ein Österreicher

"Nach einem Monat kam ich in Österreich an. Am ersten Tag ging ich in eine Bäckerei und traf einen Mann namens Fritz Hummel. Er sagte mir, dass er vierzig Jahre zuvor Syrien besucht habe und dort freundlich behandelt wurde. Also gab er mir Kleidung, Essen, alles. Er wurde wie ein Vater für mich. Er nahm mich mit zum Rotary Club und stellte mich dem ganzen Verein vor. Er erzählte ihnen meine Geschichte und fragte: "Wie können wir ihm helfen?" Ich fand eine Kirche, die mir eine Unterkunft anbot. Sofort bemühte ich mich, die Sprache zu lernen. Ich lernte 17 Stunden am Tag. Ich las den ganzen Tag Kinderbücher. Ich schaute Fernsehen. Ich habe versucht, so viele Österreicher wie möglich kennenzulernen. Nach sieben Monaten war es an der Zeit, dass ich mich einem Richter vorstelle, der über meinen Aufenthaltsstatus entscheiden sollte. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich die Sprache so gut, dass ich den Richter fragte, ob wir das Interview nicht auf Deutsch führen könnten. Er wollte zunächst nicht glauben, was er da hörte. Er war so beeindruckt, dass ich bereits Deutsch gelernt hatte, dass er mich nur zehn Minuten lang befragte. Dann zeigte er auf meinen syrischen Ausweis und sagte: "Muhammad, den wirst du nie wieder brauchen. Du bist jetzt ein Österreicher!"

Bitte tötet nicht meine Mutter! Tötet mich!

"Ich wünschte, ich hätte mehr für sie tun können. Ihr Leben war bisher ein einziger Kampf. Sie hat nicht viele glückliche Momente erlebt. Sie hat nie gelernt, was Kindheit bedeutet. Als wir in das Schlauchboot gestiegen sind, hat sie etwas gesagt, das mir das Herz gebrochen hat. Sie hat mit angesehen, wie ihre Mutter von der Menschenmenge erdrückt wurde, und sie hat gerufen: "Bitte tötet nicht meine Mutter! Tötet mich!"