"Ist ja klar, dass du so bist, typisch Einzelkind halt": Hätte ich für jeden dieser Sprüche einen Euro bekommen, könnte ich meine Texte heute von der Côte d'Azur aus schreiben. Es gibt kaum jemanden, der sich davor scheut, mir meine Geschwisterlosigkeit vorzuwerfen: Enge Freund*innen, Arbeitskolleg*innen, sogar Vorgesetzte, sofern sie Bescheid wissen. Die "Einzelkind"-Karte wird immer gern gezogen; mit Vorliebe dann, wenn der/die Gesprächspartner*in an irgendeinem Punkt argumentativ nicht mehr weiter kommt. "Dass du so reagierst, logisch", höre ich dann. "Bist eben ein Einzelkind".

Früher waren Einzelkinder Raritäten

Zur Information vorweg: Kinder haben verdammt wenig Einfluss darauf, ob ihre Eltern noch einen Bruder oder eine Schwester in die Welt setzen. Oder sogar zwei, drei, vier Geschwister. Oder ob sie sich nach der Geburt des ersten Kindes trennen. Mir zum Vorwurf zu machen, keine Geschwister zu haben, ist lächerlich. Und eine Bösartigkeit, die sich schlichtweg über Generationen hält. Das Bestaunen, Andersfinden und Herunterputzen von Einzelkindern ist eine Marotte, die vor Jahrhunderten und Jahrzehnten entstand: Als Einzelkinder noch tatsächliche "Raritäten" waren. Und ja, sicher waren davon auch einige "komisch". Wie bei den anderen Kindern übrigens auch.

Besonders witzig finde ich, was vehemente "Einzelkind"-Kritiker*innen darauf antworten, wenn man sie fragt, wie sie sich ein Einzelkind-Dasein überhaupt vorstellen. Mittlerweile hake ich nämlich interessiert nach, wenn mich jemand auf diese Tour angreifen will. Ich habe schon die tollsten Antworten bekommen: Einzelkinder kriegen alles – ausnahmslos und sofort. Sie werden verhätschelt und verzogen und sind von Natur aus gigantische Egoist*innen, weil eben die Geschwister fehlen.

Kritikfähigkeit besäßen wir nicht, weil wir als kleine Stöpsel nie Elternstunk abbekommen hätten. Und ein Date sagte mir einmal geradewegs ins Gesicht, dass Einzelkinder seiner Meinung nach alle in die "Klapse" gehören. Weil sie psychisch degeneriert seien. Da wusste er noch nicht, dass ich auch "betroffen" bin. Das Date war dann ziemlich schnell zu Ende; ich fuhr allerdings nach Hause und nicht in die "Klapse". Immerhin.

Das Leben als Einzelkind ist gar nicht so glamourös

Ich bestreite nicht, dass es auch verwöhnte, verzogene, unausstehliche Einzelkinder geben mag. Gibt es bestimmt. Aber pauschal einen Stab über eine Bevölkerungsgruppe zu brechen, die in Zukunft ein Viertel der Deutschen ausmachen wird - 26 % aller Kinder wuchsen 2014 laut des Statistischen Bundesamts ohne Geschwister auf - ist gemein und unfair.

Es ist schlimm, es kränkt, es nervt. Vor allem nervt es, weil es etwas ist, an dem das Individuum nie etwas ändern kann. Bitte: Werft mir vor, ich sei launisch, unzuverlässig, unpünktlich! Damit kann ich leben – und vor allem arbeiten, weil man sein Verhalten umstellen kann. Bei einem biologischen Fakt ist das unmöglich.

Übrigens, so glamourös ist das Leben eines Einzelkindes gar nicht. Einzelkind sein bedeutet vor allem: Du bist immer Schuld, wenn der Teller zerbrochen ist – ohne Bruder oder Schwester kannst es ja nur du gewesen sein. Ja, auch wenn der Teller wirklich selbst vom Regal gerutscht ist. Einzelkind sein bedeutet: Wenn du jemanden zum Spielen oder Reden brauchst, musst du immer jemanden einladen, und wenn deine Eltern keine Lust auf Besuch haben, bleibst du allein. Einzelkind sein bedeutet: Niemand hat vor dir bei Mama und Papa um kleine Freiheiten wie "Erst um neun Uhr schlafen gehen" gekämpft - das darfst du alles selbst machen. Und kläglich scheitern.

Und später, wenn du älter bist, bedeutet Einzelkind auch: Du trägst die Verantwortung. Du bist es, der/die Weihnachten immer zu den Eltern fährt und nicht mit Schatzi in den Urlaub fliegt. Du bist es, der/die sie regelmäßig anrufen sollte. Es gibt niemanden, mit dem du dich dabei abwechseln kannst, weil du vielleicht gerade keine Lust oder Zeit hast. Überraschung: Viele Einzelkinder, ich inklusive, rufen ihre Eltern tatsächlich an. Obwohl wir doch so schrecklich egoistisch sind.