An guten Tagen spürte Barbara Lohmann viele Gefühle. Dann war die 49 Jahre alte, alleinerziehende Mutter nicht so müde, weniger gereizt, konnte für ihre Tochter Viktoria* da sein.

An schlechten Tagen hing die Selbstständige in ihren Gedanken fest, vor allem den negativen. Sie fühlte nichts, außer unendlicher Erschöpfung und Aussichtslosigkeit: "Man hat keine Lust auf gar nichts, will nur auf dem Sofa liegen und schlafen – was aber selten funktioniert", beschreibt Barbara, die inzwischen eine Weiterbildung zur Traumatherapeutin macht, eine depressive Episode. Seit etwa einem Jahr geht es ihr gut. "Ich habe eine Therapie gefunden, die mir essenziell geholfen hat", sagt sie.

Das war nicht immer so, jahrelang blieb ihre Erkrankung unentdeckt und verschlimmerte sich. Erste Anzeichen bemerkte Barbara schon mit Anfang 20, aber Beziehung und Beruf lenkten ab. Mit Viktorias Geburt vor elf Jahren kam eine Wochenbettdepression, die nicht mehr abklang. "Ich wusste nicht, dass es eine Depression ist", sagt Barbara. "Ich dachte immer, ich wäre einfach zu faul, zu schlecht gelaunt, zu genervt, eine zu schlechte Mutter."

Nach der Trennung von Viktorias Vater war Barbara auf sich allein gestellt, "mit allen Herausforderungen, die eine alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes so hat". Das war alles zu viel. Unter anderem, weil sie sich schämte, ging Barbara lange nicht zum Arzt. "Erst nach etwa sechs Jahren wurde mir klar, dass da irgendwas nicht stimmt, und ich suchte mir Hilfe", erzählt sie. Auch ihre Tochter Viktoria litt lange still unter Barbaras unentdeckter Depression. Denn wenn Mama oder Papa depressiv werden, wirkt sich die Erkrankung auch auf die Kinder aus.

Einfach so zu tun, als wäre nichts – das funktioniert nicht. Aber wie und wann sollen Eltern ihren Kindern am besten ihre Depression erklären?

Kinder spüren es – und geben sich selbst die Schuld

Für Betroffene ist das nicht leicht. Erstens, weil es sehr schwierig und langwierig sein kann, eine Depression überhaupt zu erkennen und zu behandeln. Und zweitens, weil die Erkrankten oft von Schuldgefühlen erdrückt werden und durch die Depression außerdem kaum Kraft haben, sich ihren Kindern auch nur auf der Alltagsebene zuzuwenden.

Doch dass es gewichtige Gründe gibt, warum Eltern mit ihren Kindern irgendwann über die depressiven Episoden und die Erkrankung reden sollten, steht außer Frage, wie die Therapeutin und Diplom-Sozialpädagogin Dagmar Siewertsen von der Deutschen Depressionsliga erläutert: "Kinder neigen dazu, unausgesprochene oder verheimlichte Themen zu erspüren. In der Folge bilden sie sich ihre eigenen, oft verzerrten Erklärungen, die häufig mit Schuldgefühlen einhergehen", so Siewertsen. "Kinder benötigen die Gewissheit, dass sie keine Schuld trifft und sie keine Verantwortung für ihre Eltern übernehmen müssen."

Ich dachte immer, ich wäre einfach zu faul, zu schlecht gelaunt, zu genervt, eine zu schlechte Mutter.
Barbara Lohmann

Schuldgefühle ihretwegen – das will Juliane Bethmann unbedingt vermeiden. Ihr Sohn Levi ist 18 Monate alt und Juliane hat seit zehn Jahren eine Depression. "Ärztlich diagnostiziert wurde sie Ende 2010. Die Angststörung kam im Laufe der folgenden Jahre hinzu", sagt die 32-Jährige, die auf Instagram offen mit dem Thema umgeht und anderen Mut macht. "Wahrscheinlich war ich aber schon lange davor krank. Ursachen finden sich in meiner Kindheit, der Auslöser waren damals vor allem das Mobbing eines Vorgesetzten in Verbindung mit einer Fernbeziehung, die mir aufgrund der Entfernung zusätzlichen Kummer bereitete." Diese Situation und ein paar weitere Faktoren hätten laut Juliane die Erkrankung zum Ausbruch gebracht.

Levi ist ihr großes Glück, trotzdem macht sich Juliane Gedanken: "Ich habe Sorge, dass ich Ereignisse aus meiner Kindheit unbewusst reproduziere und meinem Kind damit schaden könnte", sagt Juliane heute, "und ich habe Sorge, dass er eines Tages denkt, ich würde ihn weniger lieben, nur weil ich mich selbst oft nicht mag".

An guten Tagen kommt die Soziologin schnell aus dem Bett, kann sich an Kleinigkeiten erfreuen, macht Pläne und ist voller Tatendrang – Alltag ist kein Problem. An schlechten Tagen hat sie das Gefühl, unter einer Art Schleier zu leben, ist traurig oder hoffnungslos: "Alles erscheint irgendwie sinnlos und irrelevant. Ich habe weder Antrieb noch Freude und es fällt mir schwer, alltäglichen Dingen gerecht zu werden", sagt Juliane, die mit dem Vater ihres Sohnes zusammen in Hannover lebt.

Und das betrifft auch Levi. "Die größte Herausforderung als Mutter mit Depressionen ist die, weniger Zeit für Regeneration und Kraft tanken zu haben", meint Juliane. Dann fällt es ihr schwerer, für Levi da zu sein, zu spielen, zu kochen, ihn liebevoll zu versorgen. "In depressiven Episoden funktioniert alles auf Sparflamme", sagt sie.

In depressiven Episoden funktioniert alles auf Sparflamme.
Juliane Bethmann

Genauso ging es auch Barbara Lohmann lange Zeit: "All die Dinge, die ein Kind braucht – miteinander spielen, zuhören, rausgehen –, konnte ich in den Episoden nur mit Widerwillen tun, zusätzlich angestrengt dadurch, eine gute Miene machen zu wollen." Für Barbara war es "die Hölle", gleichzeitig zu sehen, wie ihre Tochter darunter leidet. Die Schuldgefühle wurden nahezu unerträglich.

Bis sie schließlich den Artikel eines Vaters las, der eine ähnliche Situation beschrieb – und mit Viktoria sprach. Als Barbara ihrer Tochter die Depression erklärt hat, war sie acht Jahre alt: "Ich fragte sie, wie es ihr an den Tagen geht, an denen Mama immer so grantig schaut und so müde ist", erzählt Barbara, die bis dahin versucht hatte, eine Fassade aufrecht zu erhalten. "Sie war so erstaunt, dass ich überhaupt frage. Und meinte, dass sie dann immer denkt, sie hätte was falsch gemacht, aber wüsste nicht, was."

Dass Kinder die Depression zuerst auf sich beziehen, kennt auch Expertin Siewertsen: "Kinder befürchten oft, die Erkrankung der Eltern sei entstanden, weil sie selbst böse oder für die Eltern nicht gut genug waren. Sie vermuten, Mama oder Papa habe sie nicht mehr lieb und suchen nach Gründen im eigenen Verhalten." Dagegen helfe der offene Umgang mit der Depression. "Es sollte klar formuliert werden, dass das Kind keinerlei Schuld an der Erkrankung des Elternteils trifft", sagt Siewertsen.

Genau deshalb will auch Juliane Bethmann Levi ihre Depression erklären, sobald er alt genug dafür ist: "Ich möchte, dass er versteht, dass Menschen krank werden können, ohne daran Schuld zu haben. Und dass psychische Erkrankungen ebenso wie physische jeden Menschen treffen können und den Wert eines Menschen nicht schmälern", sagt Juliane. "Und ich möchte, dass er weiß, dass es nicht seine Schuld ist, wenn seine Mutter manchmal traurig ist. Und dass er nicht dafür verantwortlich ist, mich glücklich zu machen oder seine Bedürfnisse meinen unterordnen muss."

Ich möchte, dass er weiß, dass es nicht seine Schuld ist, wenn seine Mutter manchmal traurig ist.
Juliane Bethmann

So ähnlich hat auch Barbara Lohmann es geschafft, ihrer Tochter die Depression zu erklären: "Ich habe ihr gesagt, dass ich manchmal eine saublöde Krankheit habe, die es mir unmöglich macht, mich zu freuen oder mit ihr zu spielen. Dass diese Krankheit kommt und geht wie sie will", erzählt Barbara. "Ich habe es ihr beschrieben wie eine dunkelgraue Nebelwolke im Gehirn."

Viktoria darf ihre Mutter seitdem immer ansprechen, wenn ihr auffällt, dass etwas nicht stimmt. Außerdem haben die beiden ein Zeichen vereinbart, da reden eben nicht immer so einfach ist: "Wir haben einen großen schwarzen Punkt auf Pappe gemalt und der wird bei Bedarf auf den Kühlschrank geklebt – von der, die zuerst etwas bemerkt." Der Punkt zeigt, dass es Mama gerade nicht so gut geht und die dunkelgraue Nebelwolke wieder da ist. Am wichtigsten war Barbara, dass Viktoria sich deshalb nicht mehr schuldig fühlt: "Und das habe ich damit definitiv erreicht."

Kindern eine Depression erklären – so geht's

Wie Eltern ihren Kindern am besten die Depression erklären, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu gehört laut Expertin Dagmar Siewertsen vor allem das Alter: "Um eine Überforderung zu vermeiden, sollte die Informationsdosis altersmäßig angepasst werden. Dabei sollte einerseits Wissen über die Krankheit vermittelt, andererseits aber auch das Verstehen gefördert werden", sagt Siewertsen. Dazu gehört, die Depression von Mama oder Papa weder zu bagatellisieren, noch überzubewerten oder gar zu dramatisieren.

Formulierungen für jüngere Kinder können dann laut Expertin beispielsweise so klingen: "Mama oder Papa ist krank. Die Krankheit heißt Depression. Deshalb ist Mama oder Papa oft traurig. Er oder sie ist in Behandlung oder in die Klinik gekommen, damit die Ärzt*innen besser helfen können. Für dich bedeutet das deshalb diese oder jene Veränderungen." Spezielle Bücher können dabei hilfreich sein, laut Siewertsen zum Beispiel das Kinderbuch Papas Seele hat Schnupfen.

Literatur will auch Juliane Bethmann später einsetzen: "Es gibt mittlerweile so viele gute kindgerechte Bücher, die das Thema näher erläutern, die ich – ebenso wie einen gemeinsamen Besuch bei einem Kinderpsychologen oder einer Kinderpsychologin – in Betracht ziehen werde", sagt sie. "Wichtig ist mir vor allem, dass Levi meine Krankheit nicht auf sich bezieht."

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Wenn das erste Gespräch stattgefunden hat, sollten Eltern laut Expertin ihre Kinder auch über alle sie betreffenden wesentlichen Veränderungen im Zusammenhang mit der Erkrankung informieren. Wie gesagt: Kinder spüren es, wenn ihnen Eltern etwas Wichtiges verheimlichen.

Auch Raum für eigene Gedanken ist enorm wichtig. "Kinder sollten ermutigt werden, Fragen zu stellen und auch ihre eigenen Gefühle äußern und zeigen zu dürfen", sagt Dagmar Siewertsen. "Sie sollten zudem bestärkt und ermutigt werden, dass sie das Recht darauf haben, fröhlich zu sein und Spaß zu haben, aber auch mit ihren wichtigen Bezugspersonen über die Erkrankung des Elternteils zu sprechen." Dazu können Großeltern zählen, Therapeut*innen, Vertrauenslehrer*innen oder nahestehende Verwandte. Aus Scham würden es sich viele Kinder nämlich von sich aus nicht trauen.

"Wichtig ist zudem, dem Kind zu vermitteln, dass die Eltern sich ihrerseits Hilfe suchen und für sich sorgen", so die systemische Therapeutin. Das mindert Ängste, schafft Vertrauen und eine stabile Beziehung. "Ich habe keine Schuld an meiner Erkrankung und bemühe mich um die bestmögliche Behandlung", sagt auch Juliane Bethmann. "Ich reflektiere durch meine Krankheit viel mehr als viele andere und bin eine sehr liebevolle und fürsorgliche Mutter."

Vor allem private Support-Netzwerke können sowohl Kindern als auch Eltern in schweren Zeiten helfen. "Da sich die Problematik innerhalb der Familien gegenseitig verstärkt, ist eine Entlastung von enormer Bedeutung", stellt Dagmar Siewertsen klar. "Neben Unterstützung durch Familienmitglieder und Freund*innen sollte auch professionelle Hilfe gesucht werden." Hilfe gibt es laut Siewertsen beispielsweise in städtischen und kirchlichen Erziehungsberatungsstellen, bei Familientherapeut*innen oder auch gemeindepsychiatrischen Diensten.

Voraussetzung dafür sei allerdings, dass der*die Betroffene sich den Bedarf an Hilfe und Unterstützung eingesteht. Doch genau das ist oft nicht leicht und braucht Zeit.

"Ich weiß inzwischen, dass auch ich um Hilfe bitten kann. Das war lange nicht möglich. Es wurde oberste Priorität, meine Tochter aus der Schusslinie zu bringen. Hierfür habe ich inzwischen meine Leute, die ich anrufen kann", sagt Barbara Lohmann. "Ich möchte alle ermutigen, sich Hilfe zu suchen. Wichtig ist, dass man darüber spricht."

Für Juliane Bethmann ist unter anderem der Austausch auf Social Media, wo sie über Jahre hinweg Kontakte geknüpft und Freundschaften geschlossen hat, eine große Hilfe: "Menschen, die selbst an einer Depression leiden oder gelitten haben, verstehen oft besser, was in einem vorgeht. Auch, wenn jede Erkrankung anders ist. Ebenso wie jeder Mensch."

"Ihr seid nicht allein und macht einen großartigen Job"

Eine Depression ist eine Erkrankung und eine massive Belastung – nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Angehörigen und die ganze Familie, allen voran die Kinder. Sie spüren feinfühlig, wenn etwas nicht stimmt, und wenn Eltern ihnen nicht die Depression erklären, bauen sie sich mit der Zeit ein eigenes Erklärungsgerüst, das ihre kleinen Seelen nachhaltig prägt.

Darum ist es so wichtig, altersgemäß mit Kindern über die depressive Erkrankung der Eltern zu reden. Es lohnt sich und hilft allen.

"Ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht, es meiner Tochter ehrlich zu erklären", sagt Barbara Lohmann rückblickend. "Sie ist jetzt elf und mutiert allmählich zum Pubertier. Ihr geht es gut. Sie ist sehr selbstbewusst geworden."

Auch Juliane Bethmann wird ihrem Sohn das mit ihrer Depression erklären und blickt optimistisch in die Zukunft: "Ich freue mich unglaublich darauf, ihn großwerden zu sehen und wie sich seine Persönlichkeit entwickeln wird." Was sie anderen Eltern mit Depressionen rät? "Ihr seid nicht alleine mit euren Gedanken, auch wenn es sich oft so anfühlt. Ihr habt keine Schuld. Ihr dürft um Hilfe bitten und sie annehmen, wenn ihr nicht mehr könnt. Ihr macht einen großartigen Job und habt es verdient, glücklich zu sein. Nicht wegen, sondern für eure Kinder – und für euch."

*Name geändert

Hilfe holen

Falls du unter Depressionen leidest und/oder dich Suizidgedanken plagen, findest du bei der Telefonseelsorge online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-111 01 11 und 0800-111 02 22 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen. Angehörige, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, können sich an den AGUS-Verein wenden. Der Verein bietet Beratung und Informationen an und organisiert bundesweite Selbsthilfegruppen.

Weitere Hilfe und Infos (auch für Partner*innen) gibt es hier: