Ich sitze in meiner Wohnung und weiß, dass es gleich klingeln wird. Ich bin mit einer Freundin zum Frühstücken verabredet. Es gibt also gar keinen Grund, aufgeregt zu sein. Schließlich kennen wir uns schon seit Jahren. Wir schreiben uns täglich. Ich erkenne an ihrer Emoji-Wahl, wie es ihr geht. Trotzdem möchte ich im Minutentakt ins Bad rennen, weil ich das Gefühl habe, mich gleich übergeben zu müssen. Ein kleines Detail macht alles kompliziert: Wir haben uns noch nie persönlich getroffen.

Kennengelernt haben Katja und ich uns übers Internet, als Tinder und WhatsApp noch nicht existierten und man sich gerade erst an Facebook gewöhnte. Wir waren Chat-Freundinnen, getrennt durch 6.000 Kilometer Luftlinie. Ich las das erste Mal ihren Namen, als ich ein Blog entdeckte, das von Carrie Bradshaw aus Sex and the City hätte geschrieben sein können, der Heldin meiner Jugend. Die Autorin des Blogs hieß allerdings nicht Carrie, sondern Katja. Das war es gefühlt aber auch schon, was sie unterschied. Beide waren in Manhattan unterwegs, verdienten ihr Geld mit Schreiben und ließen mich an der Auswahl unerreichbarer Designerteile teilhaben. So zumindest mein erster Eindruck.

Ich studierte damals in Mannheim und teilte mein Bafög zwischen Rewe- und Aldi-Tagen auf. Währenddessen war Katja seit Jahren erfolgreich selbstständig und nahm mich durch ihr Blog mit in den Prada-Laden, obwohl sie keine Ahnung hatte, dass ich existierte. Wer ausgewandert ist, um in New York frei zu arbeiten, denkt erst mal nicht an Designertaschen, sondern daran, höher, schneller und weiter zu kommen. Manchmal auch einfach nur an die nächste Miete.

Katjas Blog war kein Prinzessinnen-Universum, sondern eine Art Sex And The City ohne rosarote Brille. Ihr Manhattan wirkte immer noch magisch, aber mindestens genauso rau. Es waren ihre Ich-habe-es- mir-verdient-ganz-alleine-Momente, die ich am liebsten verfolgte. "Da war sie", schrieb Katja dazu in einem ihrer Blogeinträge. "Fest in meiner Hand. Wann immer eine Pradakonsumentin einen verstohlenen Blick auf meine Elfentasche warf, habe ich sie ein wenig fester gehalten. Du darfst sie nicht haben. Es gab nur drei dieser Taschen und zwei sind schon weg, ich halte die letzte in der Hand. Es ist meine Tasche. Geh weg und nimm dir eine andere Tasche."

Carrie Bradshaw und mein Bafög-Leben

Sex And The City, sage ich ja. Dank Katjas Postings über ihr Leben als sogenannte Berlinessa in New York stand ich vor dem Nudelregal im Supermarkt und irgendwie trotzdem gleichzeitig in SoHo. Wenn ich ihre Geschichten las, fieberte ich mit wie beim Serien gucken – mit einem entscheidenden Unterschied: Das hier war echt.

Vor ihrem Leben in New York arbeitete Katja als freie Werbetexterin und Konzepterin in Berlin. Irgendwann beschloss sie, auszuprobieren, ob das nicht genauso gut im Big Apple funktionieren würde. Sie nahm alle Hürden, baute ihre Karriere neu auf und ein komplettes Leben drumherum. Der American Dream, der mühelos aussieht, aber eine Riesenportion Durchhaltevermögen erfordert.

2009 waren die Autor*innen deutschsprachiger Onlinetagebücher, wie Katja eins schrieb und ich auch, eine kleine Familie. Aktionen wie Ein Herz für Blogs hatten das Ziel, sie näher zusammenrücken zu lassen: Jede*r sollte eines vorstellen, das ihn faszinierte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und schrieb eine Mail, in der ich förmlich anfragte, ob ich Katja für meinen Beitrag interviewen dürfte. Aus neun Fragen wurde eine Chat-Konversation. Noch eine. Und noch eine. Und irgendwann gehörte Katja, die doch eigentlich Carrie Bradshaw war und so gut wie gar nichts mit meinem Bafög-Leben zu tun hatte, zu meinem Alltag.

Wir schrieben über Blogs, das Internet, das Leben, alles. Sie las meine Bachelorarbeit. Sie zeigte mir, wie selbstständig arbeiten funktioniert. Doch vor allem eröffnete sie mir mit der Zeit eine neue Perspektive: "Nimm deinen wildesten Traum und überleg noch mal genau: Wieso sollte das nicht klappen?" Wenn ich alle meine Zweifel auflistete, war sie die einzige Person, die mit dem schwarzen Edding "Trotzdem!" darüber kritzelte.

Ich denke oft daran, was ich nach meinem Uniabschluss gemacht hätte, wenn ich die offizielle E-Mail zur Blogvorstellung von Berlinessa in New York nicht abgeschickt hätte. Vorsicht walten lassen? Wahrscheinlich. Ich hätte mich vieles nicht getraut, was mich heute ausmacht. Zum Beispiel, mich in regelmäßigen Abständen Dingen zu stellen, vor denen ich eigentlich viel zu große Angst habe. Katja ist das große Trotzdem in meinem Leben, das mir gezeigt hat, was möglich ist. Ob ich wirklich gemeinsam mit ihr am Frühstückstisch sitzen möchte, weiß ich gerade allerdings nicht.

Wir stehen uns gegenüber und nichts ist okay

Es klingelt. Das große Trotzdem steht vor meiner Wohnung und ist eine echte Person. Sind wir eigentlich Freundinnen, die sich umarmen? Geben wir uns erst mal die Hand? Muss ich noch mal meinen Namen sagen? All das schießt mir durch den Kopf, während ich die Tür aufmache. Mir ist warm.

Dann stehen wir uns gegenüber und nichts ist okay. Natürlich umarmen wir uns, aber ich fühle mich hölzern. Ich lache viel zu laut. Ich bin überhaupt nicht so cool wie in Textform. Vielleicht springt sie gleich auf und muss doch los, ganz dringend? Dann setzen wir uns an den Tisch. Es gibt Brot, Wurst, Käse und Schokorosinen, die vermisst Katja nämlich in den USA am meisten. Weiß ich ja. Wir sprechen, wir essen, wir lachen und irgendwann stelle ich erleichtert fest, dass ich mit einer Person am Tisch sitze, die ich seit Jahren kenne. Trotzdem.

Dieser Moment ist jetzt sechs Jahre her. Ich bin gerade aus New York zurückgekommen. Dort wohnt Katja immer noch. Eine Woche war ich bei ihr in Brooklyn zu Hause. Drei Monate vorher saß sie auf dem Sofa in meiner Zweizimmerwohnung in Berlin. Wir leben immer noch zwei unterschiedliche Leben in zwei Zeitzonen, teilen mittlerweile aber eine Perspektive. Wir nennen sie Trotzdem. Die Überschrift einer Freundschaft, die beinahe nie existiert hätte. Deshalb, liebe Tinder-Suchenden, Twitterer und Instagram-Fangirls*boys, lasst euch nichts einreden: Das Internet ist das verlässlichste Fundbüro für Seelenverwandte im 21. Jahrhundert.