"Ich komme aus einem Entwicklungsland", sagt Aliona Melnyk mit einer Mischung aus Stolz und Ironie. Stolz, weil sie es trotz allem geschafft hat – nach Schweden, in den Westen. Ironie, weil sie immer ironisch ist. Anders ist vieles nicht zu ertragen – die Korruption, die Armut, der Krieg in ihrem Heimatland.

Drei Stunden Busfahrt sind es von Kiew in Alionas Heimatstadt Monastyryschtsche. Eigentlich ginge es schneller, aber die Straßen sind schlecht. Regelmäßig weicht die Sommerhitze die Fahrbahn auf, die Markierstreifen sind zerlaufen wie zu fetter Plätzchenteig. Früher gab es hier eine große Fabrik für Industriedampfkessel. Dann kam das Ende der Sowjetunion und die Produktion wurde stillgelegt. Seit Alionas Geburt ist die Hälfte der Menschen weggezogen.

"Als Teenager wollte ich mit einer Freundin ins Kino gehen. Sie haben uns gesagt: Wenn mindestens fünf Leute kommen, deckt das die Kosten für den Strom. Wir waren nur zu zweit, also mussten wir wieder nach Hause gehen." Mittlerweile hat das Kino ganz zugemacht. Die meisten Familien leben heute vom Geld, das Angehörige anderswo verdienen – als Wanderarbeiter auf Baustellen in Moskau, Kiew oder Italien. Andere verkaufen selbstgebrannten Wodka, um die Haushaltkasse aufzubessern. Die postsozialistische Kleinstadt ist für Aliona die Welt ihrer Jugend.

"Im Krankenhaus muss man für alles bezahlen. Schmerzmittel bekommt man nur, wenn man Bargeld dabei hat. Wer eine OP braucht, muss Glühbirnen mitbringen, weil die Ärzte sonst bald im Dunkeln säßen. Wer will schon an so einem Ort leben?"

Alionas Vater hat nach dem Ende der Sowjetunion begonnen, auf der Straße Süßigkeiten zu verkaufen, heute hat er einen eigenen Lebensmittelladen. Ihre Mutter ist Lehrerin für Biologie und Chemie, die in ihrer Freizeit Käse züchtet. Die Familie kommt über die Runden, anderen geht es schlechter. Aliona geht gerne in die Schule. Ihre Eltern legen Wert darauf, dass sie eine gute Ausbildung bekommt und bezahlen für die Englisch-Nachhilfe. Im Fernsehen laufen die Rugrats und Hey Arnold.

"Es war für mich keine Frage, dass ich weggehen würde. Jeder, der nicht familiär gebunden ist und die Mittel dazu hat, zieht weg. Die meisten meiner Freunde aus der Schule sind auch gegangen. Nur manche Frauen bleiben und heiraten."

Viele Junge gehen ins Ausland

Aliona will nicht heiraten. Sie zieht nach Kiew und studiert Journalismus, später arbeitet sie für eine Marketingagentur. Sie ist ehrgeizig, bleibt bis spät abends im Büro. Beruflich läuft alles rund. Nur einmal habe sie auf eine Bewerbung eine Absage bekommen, sagt sie.

"Jugendarbeitslosigkeit ist in der Ukraine nicht so ein großes Problem wie zum Beispiel in Spanien oder Griechenland, denke ich. Andererseits sind die Arbeitsbedingungen häufig prekär, weil das Gehalt zu spät kommt oder man keine richtige soziale Sicherung hat. Jeder Job in der Ukraine ist auf eine gewisse Art Volunteering – man wird sowieso nicht ausreichend bezahlt und arbeitet wenn dann weil einem die Sache wichtig ist."

Viele junge Menschen ziehen deswegen weg. Auch Aliona träumt von einem besseren Leben. Trotzdem fühlt sie sich in der Ukraine verwurzelt. "Ich kenne so viele Leute, die ins Ausland gegangen sind. Wir wollen nicht nur in der Ukraine sitzen und dort langsam sterben. Wir sind Optimisten und wollen etwas aus unserem Leben machen – für uns, aber auch für die Ukraine."

Aliona arbeitet hart an ihrem Englisch und strebt eine internationale Karriere an. Sie gehört zu einer jungen, europaorientierten Elite in der Ukraine, liebt Netflix, Star Wars und Doctor Who. "Als ich zum ersten Mal in New York war, habe ich mich sofort zurechtgefunden. Ich kannte die Stadt aus den ganzen Serien." In Kiew genießt Aliona das wilde Nachtleben in versteckten Untergrundclubs. Dann beginnt die Ukraine auseinanderzureißen.

Der Krieg war keine Überraschung

Als im Herbst 2013 Hundertausende auf dem Maidan-Platz demonstrierten, ist Aliona fast jeden Tag dabei. "Wir sind da hingegangen nicht wegen des Abkommens mit der EU, sondern weil wir unzufrieden waren mit der Regierung. Die Polizei hat Leute verprügelt, die Politik war korrupt. Viel geändert hat sich leider nicht."

Über Facebook organisiert Aliona Essen und warmen Tee für die Demonstrierenden. Nachts wacht sie alle paar Stunden auf und checkt die Newsticker, weil sie Angst hat, die Polizei könnte den Maidan-Platz gewaltsam räumen. Auf Storify schreibt sie auch selbst über die Demos. "Ich habe gesehen, dass die internationalen Medien vieles nicht mitbekommen haben. Also habe ich angefangen, ukrainische Nachrichtenartikel auf Englisch zu übersetzen."

Seitdem sind drei Jahre vergangen. Der Krieg in der Ostukraine hat das Land geteilt. Rückblickend war das gar nicht so überraschend, meint Aliona. Nachdem die Gewalt in den Separatistengebieten etwas zurückgegangen ist, arbeitet sie einige Zeit für das Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen. Sie schreibt Berichte, Kommunikationsstrategien, zeigt dem japanischen Botschafter ein mit Entwicklungshilfegeldern betriebenes Krankenhaus.

"Das Coolste daran war, dein eigenes Land aus einem gepanzerten UN-Fahrzeug zu sehen. Einmal sind wir in eine kleine Bergbaustadt gefahren, um Fotos von einem unserer Projekte dort zu machen – einem wieder aufgebauten Kindergarten. Alle hatten sich herausgeputzt, die Kinder tanzten für uns und es gab viel zu essen. Alle dachten, sie müssten uns beeindrucken. Ich war damals erst 25 und eigentlich nur gekommen, um ein paar Fotos zu machen. Das war eine ganz merkwürdige Erfahrung."

Doch die UN-Bürokratie und die ewige Papierarbeit sind frustrierend. Im Sommer 2016 kündigt Aliona den gutbezahlten UN-Job.

Wie geht es weiter?

Im Herbst hat Aliona ein Stipendium bekommen und studiert seitdem einen Master in Friedens- und Entwicklungsarbeit in Schweden. Das Studium ist spannend, aber mit einer Großstadt wie Kiew kann das verschlafene Unistädtchen Växjö nicht mithalten.

Wie stellt sich Aliona ihre Zukunft vor? "Die ukrainische Nationalhymne beginnt mit den Worten ‚Noch ist die Ukraine nicht gestorben'. So fühle ich mich jeden Tag." Da ist sie wieder, die bittere Ironie. Auch wenn der Text der Nationalhymne vor einigen Jahren in eine etwas weniger depressive Variante geändert wurde – so wie Aliona geht es vielen jungen Menschen in der Ukraine.

"Die Tragödie meiner Generation in den Entwicklungsländern ist, dass wir durch die Medien das Leben im entwickelten Westen sehr gut kennen. Aber unser Alltag sieht ganz anders aus. Ich nenne es Cinderella-Syndrom: Wir glauben, wir könnten alle wie im Märchen leben, aber das ist natürlich nicht so. Früher war ich eifersüchtig auf Menschen, die in Deutschland oder Schweden aufwachsen. Aber dann habe ich verstanden, dass mein Leben dann viel langweiliger wäre."

Ohne ihren Optimismus wäre Aliona wahrscheinlich nicht so weit gekommen. Trotzdem blickt sie mit Sorge auf das neue Jahr. "Ich habe eine Therapie angefangen. Das hat natürlich persönliche Gründe, aber es hat auch mit der politischen Situation zu tun. Andauernde Unsicherheit, Stress – und dann auch noch Trump als US-Präsident! In der Ukraine sind alle im Supermanmodus und glauben, dass wir hart sein und uns immer selbst helfen müssen – egal wie schlimm alles ist. Es ist eine Machogesellschaft, wo die Leute denken, dass es cool ist zum Beispiel ohne Gurt Auto zu fahren. Der Druck ist enorm hoch. Durch den Krieg ist das noch schlimmer geworden. Ich muss lernen, mich zu auch mal zu entspannen. Aber das ist eben nicht so leicht."

Nach dem Studium in Großbritannien, Schweden oder Deutschland zu arbeiten oder noch einen Doktor zu machen – das kann sich Aliona gut vorstellen. "Aber ich weiß noch nicht, wie ich das machen soll. Ich brauche einen Job, um eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und das ist sehr schwierig." Langfristig möchte sie aber wieder zurück in die Ukraine – aus Pflichtbewusstsein.

"Wenn es etwas Schlechtes in der Welt gibt, dann ist das auch dein Problem, weil du nicht versucht hast, es zu ändern – daran glaube ich. Früher wollte ich deswegen nach Afrika oder Asien gehen. Aber jetzt glaube ich, dass ich am besten in der Ukraine helfen kann, die Welt zu verbessern."