Ich habe ständig die Finger im Mund. Nicht, weil ich Essensreste von meinen Fingern lecke oder anrüchige Gesten in der Gegend verteile. Sondern, weil ich an diesen komischen Keratin-Plättchen an den Fingerspitzen rumbeiße. Das mache ich schon solange ich mich zurückerinnern kann.

Bei den Fingernägeln hört es nicht auf. Mit meinen Zähnen zupfe ich genauso an der Nagelhaut herum, und zwar so viel, wie es meine kurzen Nägel zulassen. Nicht selten ist das mit Schmerzen verbunden, manchmal fließt sogar Blut. Das ist ein normaler Teil meines Lebens. Dabei hätte ich so gerne schöne Hände. Ich bin ein verbissener Nägelkauer, und nichts konnte mich bislang davon abhalten.

Vergangene Woche führte ich ein kleines Experiment durch und schrieb alle Situationen auf, in denen ich zum Fingernagel griff. Ich wollte herausfinden, in welchen Gemütszuständen ich mich beim Kauen befinde, und ob ich die vielleicht vermeiden könnte. Die Antwort: Ich tue es immer. Ich tue es, wenn ich nervös bin, ich tue es, wenn ich konzentriert bin. Wenn mir langweilig ist, wenn ich Hunger habe, wenn ich mich ärgere. Bei Stress, Aufregung, einfach immer, wenn meine Hände frei sind. Und vermeiden geht schon gar nicht.

Die Sucht ist stärker

Ich habe bereits viel ausprobiert, um das zu ändern. Schon in der Schule testete ich Bitterlack, eine Art farblosen Nagellack. Der verspricht, so widerlich zu schmecken, dass ein Nägelbeißer nicht mal in die Versuchung kommt, sich die Finger in den Mund zu stecken. Bitter war er, ja. Nur leider waren sämtliche Nahrungsmittel, die ich anfasste, genauso bitter und daher kaum mehr essbar. Jedes Brötchen, jeder Apfel, jedes Döner. Dass meine Finger mein Essen und meine Umgebung verseuchten, war nicht akzeptabel.

Irgendwann schleppte mich meine Tante zu einem Nagelstudio. Sie meinte, falsche Nägel wären die Lösung für mich. Erstens würden sie nicht wirklich angenehm schmecken, zweitens waren sie quasi unbeißbar. Die Nagelpflegerin klebte mir also einen Nagel aus Acryl auf den Zeigefinger, den ich für eine Woche testen sollte. Die nächsten Tagen rannte ich also mit einem dicken Zeigefinger-Nagel rum, den ich solange bearbeitete, bis er nachgab. Der Fake-Nagel hatte keine Chance.

Eine andere Taktik beinhaltete Kaugummi. Durch ständiges Kauen versuchte ich, meinen Mund zu beschäftigen. Leider fand ich schnell heraus, dass ich auch mit vollem Mund recht gut an den Nägeln beißen konnte. Besser also Hände beschäftigen und versuchen, die Finger mit irgendeiner Tätigkeit abzulenken. Zeichnen, Sudokus lösen – ich fing sogar an zu stricken. Schlussendlich war alles vergebens.

Vielleicht liegt das daran, dass meine Fingernägel immer anwesend sind. Kaugummis habe ich nicht immer bei mir, Sudokus und Strickzeug schon gar nicht. Meine Hände hingegen schon.

Bin ich krank?

Die Frage nach dem Warum stelle ich mir regelmäßig. Ist es eine Sucht, ein Selbstzerstörungszwang, eine Abhängigkeit? Meine persönliche Annahme ist, dass ich nach Freuds "Theorie der psychosexuellen Entwicklung" in der oralen Phase steckengeblieben bin. Dinge in meinen Mund zu stecken, gibt mir eine gewisse Befriedigung, sei es Essen, eine Zigarette oder ein Fingernagel.

"Bei einer emotionalen Anspannung kann das Kauen an den Nägeln erst einmal beruhigend wirken, obwohl es die Haut schädigt", sagt Helen Niemeyer, klinische Psychologin an der Freien Universität Berlin. "Dieser harmlose Tick kann sich automatisieren. Man nennt das 'Verhaltensautomatismus'".

Tatsächlich kauen 30 Prozent der Kinder und zehn Prozent der Erwachsenen gelegentlich an ihren Fingernägeln (Onychophagie) oder an der Haut drumherum (Perionychophagie). Bei schwerer Form gelte das als selbstverletzendes Verhalten und kann auf eine psychische Störung (Zwangserkrankung, ADHS) hinweisen. Bei leichterer Form als bloße "Übersprungshandlung" die auf Nervosität, Langeweile und anderen Gemütszuständen basiert. Ich selbst befinde mich wohl in einem Stadium dazwischen. Denn nach stressfreien Phasen, wie zum Beispiel Urlauben, komme ich jedes Mal mit halbwegs schönen Fingernägeln zurück. Oft sogar mit diesen kleinen weißen Streifen am Nagelende.

Eventuell bin ich sogar gar nicht selbst an meinem Tick schuld. Denn Nägelkauen kann wie alle Verhaltensweisen durch Nachahmung erlernt (und im Umkehrschluss auch wieder verlernt) werden. "Insbesondere Kinder können dem Fingernägelkauen verfallen, wenn sich in ihrer persönlichen Umwelt Menschen befinden, die Fingernägel kauen und diese für das Kind ein Vorbild (z. B. nahe Verwandtschaft) darstellen", steht auf der Homepage des Weiss-Instituts, ein Therapiezentrum für Suchtbekämpfung.

Nägelkauen ist deswegen so schlecht in den Griff zu kriegen, weil es meistens unbewusst und automatisch passiert. Wenn ich es merke, ist es meistens bereits zu spät. Der Nagel ist ab und ich ärgere mich. Ich muss also einen alternativen Weg finden, emotionale Spannungen abzubauen. Mein Plan ist neuerdings, zu jeder möglichen Zeit, geröstete Sonnenblumenkerne zu essen. Das ist so ein dermaßen großes Herumgefuzel, dass Hände und Mund ausreichend beschäftigt sind. Und in Berlin sieht man vor lauter Kern-Schalen ohnehin kaum noch den Bürgersteig.

Sollte das nichts nützen, könnte eine Verhaltenstherapie helfen: ein sogenanntes Habit-Reversal-Training. Helen Niemeyer empfiehlt dafür, den Schwung der ursprünglichen Handbewegung zum Mund aufzugreifen, und sich stattdessen auf die Schulter zu tippen. Nach ungefähr zwei Wochen würde ein Automatismus einsetzen, der gut vom Nägelkauen ablenkt.

Das wird also mein nächster Versuch sein, einen alternativen Automatismus entwickeln. Irgendwas muss ja helfen. Vielleicht bin ich dann auch bald wieder in der Lage, eine Getränkedose zu öffnen.

Falls ihr gute Tipps für mich habt, wie ich diese Angewohnheit loswerden könnte, oder ihr mit mir gemeinsam Nägelkauen möchtet, schreibt mir eine Mail.