Update 9. Januar: Wir haben Luisas Meinung zu den beiden Expert*innen ganz am Ende hinzugefügt. Außerdem geht sie auf die häufig erwähnten Kommentare ein, sie sei eventuell asexuell oder aromantisch.

Kürzlich schickte Luisa, die eigentlich anders heißt, eine lange Mail an ze.tt. Sie schrieb darin über Texte, die sie häufig auf unserer Webseite liest. Texte mit Titeln wie: Heimlich verliebt – der größte Liebesirrtum oder Warum schreiben wir stundenlang an einer Whatsapp-Nachricht, wenn wir verliebt sind?

Sie liest diese Texte gern – und kann doch wenig damit anfangen. Denn Luisa war in ihrem Leben noch nie verliebt und hatte noch nie Sex. Sie fragt sich, ob das normal ist. Um das herauszufinden, haben wir uns ihre Geschichte erzählen lassen und mit ihrem Einverständnis zwei Expert*innen dazu befragt.

Luisas Geschichte

Ich wohne mit meiner besten Freundin in einer Zweier-WG in Bremen. Sie hat hin und wieder Liebeskummer, wenn sich einer mal nicht meldet. Da denke ich mir manchmal, das ist ein Vorteil, dass ich das noch nie erlebt habe. Ich hatte noch nie das Gefühl, dass ich jemanden wirklich heiß finde oder dass jemand für mich geschwärmt hat. Dates hatte ich schon ein paar und ich habe auch schon mit einigen geknutscht, aber ich hatte nie wirklich das Gefühl, dass es um mich geht.

Einige Male hätte ich die Chance auf Sex gehabt, aber irgendwie hat es sich nicht richtig angefühlt. Dabei hätte ich gerne mal Sex. Aber bis jetzt hat es kaum mal eine Person geschafft, mich auch nur annähernd so zu faszinieren, dass ich mit ihr etwas anfangen wollen würde. Weder Onlinedating noch Clubbing oder Ausgehen in Bars führt zu irgendwelchen romantischen oder sexuellen Gefühlen. Und dabei meine ich absolut keine Asexualität. Ich beispielsweise interessiere mich sehr für Sex, würde auch gern mal welchen haben.

Aber es stranden alle bei mir auf der Freundschaftsebene. Jedem einzelnen Menschen, den ich bisher getroffen habe, fehlt die Attraktivität für Körperliches oder Romantisches.

Wenn ich mit jemanden ausgehe, denke ich hinterher meist: langweilig. Vor etwa einem Jahr habe ich jemanden gedatet, den ich aus einem Fußball-Fanclub kenne. Er meinte, dass er nichts Festes will und dass ich aufpassen soll, dass ich mich nicht verliebe. Da sagte ich zu ihm: Keine Sorge, das passiert nicht. Wir haben uns öfters getroffen und einmal saßen wir abends an einem Fluss. Er meinte: Ich würde dich gerne küssen. Meine Antwort war: Ja, lass doch machen. Aber sonderlich aufgeregt war ich nicht. Danach hat mich eine Freundin gefragt, wie es war und ich sagte: Neutral. Sie entgegnete: Du bist so kalt.

Wir haben uns noch ein paarmal getroffen und dann auch rumgemacht, aber es war so ein stilles Übereinkommen, dass nicht mehr passiert. Irgendwann sagte er dann, dass er wegen seiner Abschlussarbeit viel zu tun hätte und dass er sich wieder melden würde. Das ist aber nie passiert. Groß darunter gelitten habe ich nicht.

Dass ich noch nie verliebt war, belastet mich nicht, aber ich finde es auffällig. Das Thema begleitet mich seit der Mittelstufe. Da haben Freundinnen oft erzählt: Oh Gott, ich bin verknallt in den süßen Typen aus der Oberstufe. Ich hatte das nie.

Klar frage ich mich manchmal, woher das kommt. Vielleicht wäre es leichter, wenn ich schon mal Sex gehabt hätte. Vielleicht habe ich Bindungsangst. Wenn man jemanden von vornherein nicht an sich heranlässt, kann der einem auch nicht weh tun. Aber so konkret festmachen kann ich das nicht. Es ist nicht so, dass ich gefühlskalt wäre. Wenn ich einen traurigen Film sehe, fange ich schon an zu weinen. 

Ich könnte gar nicht genau sagen, wie die Person sein müsste, in die ich mich verliebe.

Ich könnte mir auch vorstellen, dass es mit meinen Eltern zu tun hat. Meine Kindheit war zwar recht normal, aber beide haben sehr viel gearbeitet und es war manchmal etwas unterkühlt und nicht so innig. Viel Zeit haben wir nicht miteinander verbracht. Früher hatten wir eine Nanny, die auf meinen Bruder und mich aufgepasst hat. Die hab ich sehr geliebt, aber als ich zwölf war, ist sie dann weg, weil wir alt genug waren.

Ich mache jetzt weiter wie bisher, gehe zur Uni, treffe mich mit meinen Freunden, mache Sport. Ich hoffe, dass ich darüber jemanden kennenlerne, der die gleichen Interessen und die gleiche Meinung hat. Denn Gleich und Gleich gesellt sich gern. Ich weiß schon, was ich sympathisch und attraktiv finde und was nicht, aber ich könnte nicht genau sagen, wie die Person sein müsste, in die ich mich verliebe. Ich gehe davon aus, dass es noch kommt. Wenn man sich auf Kommando verlieben will, klappt es eh nicht.

Die erste Expert*innenmeinung

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Paartherapeut und Autor in München. Er schreibt für das ZEITmagazin die Kolumne Die großen Fragen der Liebe und hat ein Buch zum Thema Nähe und Beziehungen verfasst: Die Angst vor Nähe. Hier ist seine Einschätzung zu Luisa:

In Luisas Schilderung spiegelt sich die Moderne, in der Sexualität wenig unterdrückt wird und die Neugier, was das so ist, durch die Medien mehr als befriedigt wird. Die meisten Menschen haben früher Sex gehabt, nicht weil sie verliebt waren, sondern weil sie neugierig auf etwas waren, was das geheime Privileg der Erwachsenen schien. Luisa wartet auf die Liebe, auf ein großes Gefühl. Aber das ist nicht von Anfang an da, das kann sich höchstens entwickeln.

Häufig sind der Anspruch und die Erwartungen an die Gefühle in der Liebe und in einer Beziehung sehr groß. Das entmutigt, aus kleinen Zärtlichkeiten und Gemeinsamkeiten etwas entstehen zu lassen. Niemand kann am Anfang wirklich sicher sein, dass die Liebe auf den ersten Blick funktioniert. Erst wenn sich zwei darauf einlassen und es geht gut, erzählen sie sich nachher die schöne Geschichte von der großen Liebe auf den ersten Blick. Pech ist nur, dass andere die Geschichte wörtlich glauben und sich nicht aus ihrer Traumwelt heraustrauen, was eigentlich sein müsste, um sich auf eine erotische Beziehung einzulassen. 

In der Realität ist es aber häufig so, dass dieses Gefühl nicht von Anfang da ist und man kann sich auch nicht sicher sein, dass es sich entwickelt. Wenn man aber jemanden findet, der einen unterstützt, dann kann Liebe entstehen. Heute mischt sich nicht selten ein Leistungsdruck, ein Streben, es perfekt zu machen, in die spontanen Gefühle und blockiert sie. Das Ergebnis ist die Angst vor Nähe, die Luisa beschreibt. In einer erotischen Beziehung muss man jemand sehr dicht an sich ranlassen, das ist etwas sehr Intimes. Das kann Angst machen, weil nicht klar ist, ob ich es richtig und gut mache oder nicht.

Schlechten Sex verzeiht man sich mit 16 Jahren leichter als mit 24. Daher ist Luisas Distanz auch eine Art Selbstläufer: Je länger sie wartet, desto banaler fühlt sich ein erstes Mal an. Wenn jemand infrage käme, denkt sie: Da hatte ich schon bessere Angebote, und habe mich nicht darauf eingelassen.

Es gibt heute gar nicht so wenige Menschen, die dieses Problem haben. Es ist eine wachsende Gruppe, die mit 24, 25 Jahren noch keinen Sex hatte.

Luisa sollte offen damit umgehen und sagen: Ich bin 24, hatte noch nie eine Beziehung und Sex. Wenn Sie dann jemanden findet, der mit ihr etwas entwickeln möchte, sind die Chancen gut.

Wenn sie aktuell nicht darunter leidet, ist ihr momentaner Weg völlig in Ordnung. Sie kann sich noch ein paar Jahre Zeit lassen, vielleicht kommt ja jemand und holt sie aus ihrer Wartestellung. Wenn sie sich aber mit 30 sagt, dass sie sich nach Kindern, Familie und einer Beziehung sehnt, dann sollte sie etwas gegen ihre Nähe-Angst machen, am besten eine Gruppentherapie.

Die zweite Expert*innenmeinung

Stefanie Stahl arbeitet als Psychotherapeutin in ihrer Praxis in Trier. Sie hält Seminare zum Thema Bindungsangst und ist unter anderem Autorin des Buches Vom Jein zum Ja!Bindungsangst verstehen und lösen. Hilfe für Betroffene und ihre Partner. Hier ist ihre Einschätzung zu Luisa:

Luisas Geschichte deutet auf Bindungsangst hin. Sie hat vermutlich keine sichere Bindung zu ihren Eltern aufgebaut, sie konnte nicht darauf vertrauen, dass sie immer da sind, deshalb hat sie Bindung nicht als etwas abgespeichert, was vertrauenswürdig ist. Meine Vermutung ist: Ihre Eltern haben sie sehr früh allein gelassen. Um sich in ihrer seelischen Not zu schützen, hat sie vermutlich gelernt, ihre Gefühle abzustellen.

Diese kindliche Prägung besteht bis in das Erwachsenenalter: Auch heute kann sie keine starken Bindungsgefühle an einen Menschen entwickeln. Vermutlich hat sie einen inneren Bindungsstil, der in der Psychologie als gleichgültig vermeidend beschrieben wird, das heißt, ihr vorherrschendes Gefühl in Bezug auf mögliche Liebesobjekte ist Gleichgültigkeit.

Gleichgültige Bindungsvermeider sind häufiger Männer. Es sind oft sehr starke Persönlichkeiten, sehr intelligent und arbeitsam, aber sie haben ein Problem, echte Nähe in Beziehungen zu fühlen und zuzulassen.

Dass sie scheinbar nicht darunter leidet, ist Teil ihres Schutzmechanismus.

Dass sie einen großen Freundeskreis hat, aber noch nie verliebt war, schließt sich nicht aus. Man kann sein Bindungsbedürfnis auch teilweise über Freunde erfüllen. Und natürlich kann sie ihr Leben lang so weitermachen, aber sie nimmt sich damit etwas von ihrer Lebensfülle. 

Dass sie scheinbar nicht darunter leidet, deutet auf keine so große innere Beteiligung hin. Das ist Teil des Schutzmechanismus, wenig zu fühlen. 

Wenn sie leiden würde und sagte, das ist ganz schlimm, dann wäre sie schon einen Schritt weiter. Dann hätte sie schon einen besseren Draht zu ihren Gefühlen. Aber dafür muss ihr Leidensdruck erst mal groß genug werden.

Das Gefühl von Bindung ist existenziell: Wir haben wenige psychische Grundbedürfnisse, aber auf Bindung sind wir angewiesen. Früher war der Ausschluss aus der Gemeinschaft der glatte Tod. Noch heute ist Einsamkeit mit das Schlimmste, was Menschen passieren kann. Das andere Grundbedürfnis ist Selbstständigkeit/Autonomie. Diese beiden Grundbedürfnisse konkurrieren miteinander: Wenn ich mich binde, muss ich etwas von meiner Selbstständigkeit aufgeben. Das kann Luisa nicht, weil sie gelernt hat, dass sie sich auf keinen verlassen kann und ihre Autonomie mithin überlebenswichtig ist.

Das Gefühl von Bindung ist existenziell.

Teil der Therapie wäre, an ihrem inneren Kind zu arbeiten. So bezeichnet man in der Psychologie jenen Persönlichkeitsanteil, der durch die Kindheit geprägt wurde. Diese Prägungen werden unbewusst in das Erwachsenenalter übernommen. Es geht darum: Das innere Kind von Luisa hat Angst vor Verlust und Einsamkeit, es hat gelernt, sich zu beschützen, gar nicht mehr so viel zu fühlen.

Sie müsste den Kontakt zum inneren Kind finden und dann die alten Programme verändern und mit neuen Programmen überspielen. Dies geht mithilfe von Ratgeberliteratur oder durch Psychotherapie. In ihrem Unterbewusstsein ist gespeichert: Ich genüge nicht, ich darf nicht vertrauen, ich darf mich nicht binden. Stattdessen muss sie lernen: Ich bin ein liebenswerter Mensch und darf vertrauen.

Das sagt Luisa zu den Expertenmeinungen und den Hinweisen vieler Kommentatoren, sie sei asexuell:

"Die Expertenmeinungen finde ich nicht sonderlich zutreffend oder hilfreich. Gerade Frau Stahl wirkt, als wollte sie mir ein Problem andichten, das ich gar nicht als solches wahrnehme. Natürlich denke ich manchmal: Wäre schön, jetzt jemanden zu haben, aber ich denke, das empfinden eine Menge Singles ab und zu.

Ich nehme jedoch an, dass diese diagnostischen Ansätze daher rühren, dass sie gefragt wurden, woher meine fehlenden Gefühlen wohl kommen könnten. Da musste dann eben was her. Ob die auch zustimmen, dafür hätten sie wohl mit mir reden müssen und das auch nicht nur einmal. 

Und ja, ich bin nach wie vor der Meinung, dass ich weder aromantisch noch asexuell bin."