Der Arbeitsalltag in Deutschland sieht für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten gleichförmig aus: In sogenannten Behindertenwerkstätten schreddern sie Unterlagen oder fertigen Holzarbeiten an. Für andere Stellen werden ihre Behinderungen meist zum Ausschlusskriterium: Wer nicht nach den Bedingungen unserer Leistungsgesellschaft performt, wird ausgemustert. Die Behinderung wird als Schwäche angesehen. Dass es auch anders geht, zeigt ein Designstudio mit Ateliers in Barcelona und Medellin. In der La Casa de Carlota arbeiten Menschen mit Lernschwierigkeiten gemeinsam mit Designstudierenden, Künstler*innen und Art-Direktor*innen an kreativen Projekten.

Das Studio erstellt Illustrationen und gestaltet Verpackungen. Wie in jedem Designprozess sind dabei kreative, neue Herangehensweisen wichtig. Das war einer der Hauptgründe, warum sich das Studio dazu entschieden hat, Designer*innen mit Lernschwierigkeiten anzustellen. Sergi Capell Pedrol, einer der Gründer von La Casa de Carlota, erklärt: "In jedem kreativen Prozess ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Köpfe von großem Vorteil, um neue Ideen zu entwickeln. In La Casa de Carlota wollten wir ausprobieren, was passiert wenn wir diese Idee konsequent umsetzen und unser Kreativteam aus Menschen zusammensetzen, die mit Downsyndrom, Autismus oder anderen Behinderungen geboren wurden."

In jedem kreativen Prozess ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Köpfe von großem Vorteil, um neue Ideen zu entwickeln." – Sergie Capell Pedrol

Seit fünf Jahren arbeitet das Studio nach diesem Konzept und stellte mit der Zeit fest, dass die unterschiedlichen Blickwinkel auf das Leben und die kreative Arbeit, die die Designer*innen mit in den Schaffensprozess einbrachten, die Ergebnisse des ganzen Teams beflügelten. Das erlaube dem Team, Ideen und Ansätze zu entwickeln, die mit standardisierten Prozessen nicht erreicht werden könnten.

Menschen mit Lernschwierigkeiten würden auf Details achten, die Menschen ohne Behinderung oft gar nicht auffielen und hätten eine besondere künstlerisch-kreative Herangehensweise an den Designprozess, erzählt Capell Pedrol. Diese Stärke wirke sich immer wieder auf die Arbeit in der La Casa de Carlota aus. Inzwischen haben auch große Marken das Potenzial der Teams aus Barcelona und dem Partnerstudio in der kolumbianischen Stadt Medillín erkannt: 2017 entwarf das Studio ein farbenfrohes Design für einen Adidas Schuh, außerdem entwarfen die Designer*innen Etiketten und Verpackungen für Weine, Bier und Oliven, illustrierten Plakate und wirkten bei Werbekampagnen verschiedenster Unternehmen mit.





Nina Tschirner war ein halbes Jahr lang Teil des Teams. Tschirner ist 27 Jahre alt und studiert Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Potsdam. Sie arbeitete als Praktikantin im Studio von La Casa de Carlota in Barcelona und wirkte währenddessen an verschiedenen Kampagnen mit. In ihrem persönlichen Umfeld hatte sie bisher nur wenig Kontakt mit Menschen mit Behinderungen. "Ich war natürlich zunächst etwas aufgeregt und nervös, aber eigentlich nur, weil ich durch die Sprachbarriere Angst hatte, dass wir uns nicht richtig verständigen können." Ihre Befürchtungen stellten sich allerdings schnell als unbegründet heraus: "So herzlich wie hier wurde ich bisher noch in keinem Arbeitsteam empfangen. Die Teamarbeit war so ehrlich, unkompliziert, erfrischend und lustig, dass es mir mehr als leicht fiel, mich zu integrieren." Die Auffassung von La Casa de Carlota sei, dass jede*r seine*ihre eigene persönliche Behinderung oder Einschränkung habe. Tschirners war in diesem Fall, dass sie nicht fließend Spanisch sprechen konnte. Trotzdem hätten ihre Kolleg*innen schnell Wege gefunden, um mit ihr zu kommunizieren.

Im Vordergrund steht der Mensch, mit seinem Können, seiner Einzigartigkeit und Kreativität." – Nina Tschirner

Tschirner gefiel vor allem der inklusive Ansatz des Studios: "Die Behinderung ist im Designprozess völlig nebensächlich, im Vordergrund steht der Mensch mit seinem Können, seiner Einzigartigkeit und Kreativität." Sie selbst habe seit dem Praktikum einen anderen Blick auf die Welt. "Es ist ein ehrlicher, unverkopfter und sehr spannender Blick, der die eigenen Vorstellungen hinterfragt und auf sehr gute Weise ins Wanken bringt."

Inklusive Projekte, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen sich basierend auf ihren persönlichen Fähigkeiten gemeinsam in einem Unternehmen einbringen können, sind noch immer eine Seltenheit. Dabei bietet diese Form der Arbeitsweise besonders in kreativen Arbeitsfeldern ein großes Innovationspotenzial und die Möglichkeit, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen. Dazu kommt, dass laut UN-Behindertenrechtskonvention jeder Mensch mit Behinderung das Recht auf Arbeit in einem offenen und zugänglichen Arbeitsmarkt und -umfeld hat. Es ist ein Menschenrecht, sich eine Arbeitsstelle frei aussuchen zu können, ohne die Angst, aufgrund einer Behinderung bei der Berufswahl diskriminiert zu werden.

Die in Deutschland bisher gängigen Werkstätten mögen für manche Menschen mit Behinderungen eine gute Möglichkeit sein, um den Arbeitsalltag in einem geschützten Raum kennenzulernen. Echte Inklusion entsteht allerdings erst, wenn Menschen mit und ohne Behinderungen miteinander in Kontakt kommen und sich jede*r entsprechend seiner*ihrer persönlichen Stärken einbringen kann.