"Wohngemeinschaft" – mehr steht nicht auf dem Klingelschild. Doch diese WG im Erdgeschoss eines Sozialbaus in der Münchner Sudetendeutschstraße ist keine weitere Studentenbude. An der Eingangstür ist davon noch wenig zu erahnen. Nur eine kleine Plakette mit der Aufschrift "Gemeinsam Leben Lernen" fällt aus dem Rahmen.

Nach dem Klingeln öffnet Gesa die Tür. Gesa ist 21 Jahre alt, sieht aber viel jünger aus. Sie wurde mit dem Williams-Beuren-Syndrom geboren, das ihr Wachstum gehemmt und ihre Gesichtszüge verschoben hat. Einhergehend mit diesem Syndrom ist eine geistige Behinderung. Auch andere Bewohner der WG leben mit Behinderungen. Der Unterschied zu einer Wohngruppe oder einem Pflegeheim besteht darin, dass sie nicht unter sich bleiben, sondern mit Studenten ohne Behinderung zusammenwohnen. Die WG ist inklusiv, eine von etwa 30 inklusiven WGs in Deutschland. Genauere Zahlen kennt Rudi Sack, Geschäftsführer des WG-Betreibers Gemeinsam Leben Lernen e.V. nicht. "Das ist nicht so leicht zu schätzen, weil auch nicht ganz klar ist, was man darunter zählen soll", sagt er. Sein Verein betreibt in München sieben solcher WGs, drei weitere sind in Planung.

Menschen mit und ohne Behinderung leben in diesen Wohnungen nicht nur gemeinsam, sie machen zusammen Ausflüge, feiern Partys oder sitzen wie jetzt gerade am großen Esstisch. Es ist Abendessenszeit, und außer Gesa beteiligen sich noch drei weitere Mitbewohner an den Vorbereitungen.

Einer dieser Mitbewohner ist Tobias Polsfuß. Tobias studiert Soziologie und Pädagogik. Mit blonden Wuschelhaaren, Jeans und T-Shirt sieht er wie jeder andere Student in einer ganz gewöhnlichen WG aus. Neben Klausuren und Hausarbeiten ist er aber auch Gründer der Plattform wohnsinn.org, die als Börse für inklusive WGs dient. Im Juni 2016 startete das Projekt.

Inklusiv lebt Tobias schon seit gut drei Jahren: "Nach dem Abitur habe ich im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) mit Behinderten gearbeitet, in Athen", erzählt er. "Und ich habe mich gefragt: Wie kann es eigentlich sein, dass ich die 19 Jahre vorher quasi nicht mit Menschen mit Behinderung in Kontakt kam?" Die Exklusivität der deutschen Gesellschaft nervte ihn. Zuerst lebte er trotzdem in einer kleineren WG ohne behinderte Mitbewohner*innen.

"Das war nichts für mich", sagt er. Der Gemeinschaftsaspekt kam zu kurz, gemeinsame Aktivitäten oder Abendessen gab es kaum. Die Zweier-WG war ihm ohnehin zu klein. Jetzt hat er vier Mitbewohner*innen mit Behinderung und drei ohne, und es gefällt ihm viel besser.

Es sind Menschen wie die 30-jährige Teresa Storch, die Trisonomie 21 hat, besser bekannt als Down-Syndrom. Von Zuhause auszuziehen war lange keine Option. Obwohl sie längst selbstständig in einer Behindertenwerkstatt arbeitete. Ihre Eltern halfen ihr zwar bei der Wohnungssuche, doch in Wohngruppen gefiel es ihr nicht. Dann fanden sie die Wohnung im Münchner Norden.

"Es gibt eine Katze und den Tobi."

Dank der WG sitzt sie an einem Abend wie diesem am Küchentisch und schneidet Gurken fürs Abendessen. Das Zusammenleben mit Menschen ohne Behinderung bietet ihr eine Normalität, die ihr sonst oft vorenthalten wird. "Hier ist es schön", sagt sie, "es gibt eine Katze und den Tobi."

Tobi, Teresa und Lena, eine Pädagogikstudentin und Freundin der WG, decken gerade den Tisch und schieben gefüllte Paprika in den Ofen, als Hannes Ponton nach Hause gebracht wird. Er hat das Wochenende bei seinen Eltern verbracht.

Auch Hannes hat das Down-Syndrom, er arbeitet in derselben Werkstatt wie Teresa und lebt hier, seit die WG vor 11 Jahren gegründet wurde. Er wird dieses Jahr 41, alleine wohnen kann er nicht. Die Alternative zum gemeinsamen Wohnen in der Sudetendeutschestraße wäre eine Wohngruppe – oder sein ganzes Leben bei seinen Eltern zu verbringen. Jetzt freut er sich, bei der Essensvorbereitung helfen zu können: Er stellt Gläser auf den Tisch und sprudelt Wasser in einem Sodamax. Am Anfang waren es gerade die Eltern, die Bedenken hatten, ihre behinderten Kinder in einer WG wohnen zu lassen. Tobias Polsfuß erinnert sich: "Die hatten Angst, dass Studenten zu chaotisch wären, um Verantwortung zu übernehmen."

Inzwischen ist das Konzept so beliebt, dass es Wartelisten gibt. Auch die nicht behinderten Mitbewohner*innen müssen sich einem WG-Casting stellen. Die Anderen entscheiden, wer ein freies Zimmer beziehen darf. Man findet die inklusive WG ganz normal über "WG Gesucht". Sie ist für Studierende sogar mietfrei – geeignet ist allerdings nicht jeder.

Das liegt nicht am falschen Studienfach. Es ist allen wichtig, nicht nur vier Pädagog*innen mit fünf Menschen mit Behinderung zusammenwohnen zu lassen. Es wird aber ein gewisses Engagement vorausgesetzt. Die Studierenden übernehmen regelmäßig Hilfsdienste, für die sie ab 16:30 Uhr nach Hause kommen. Sie helfen dann beim Kochen, Wäschewaschen oder Einkaufen. Ganz ohne Profis geht es aber auch nicht. Jeden Tag sind entweder eine FSJlerin oder eine Fachkraft im Haus und kümmern sich um die Pflege, die die Mitbewohner*innen nicht leisten können. Auch eine WG-Leitung gibt es, die sich um den Papierkram kümmert.

"60 Prozent der Erwachsenen mit Behinderung wohnen noch bei ihren Eltern", sagt Tobias Polsfuß. In seiner Stimme liegt dabei kein Ärger, eher Verwunderung darüber, dass viele Menschen diese Tatsache so wenig interessiert. Wäre die WG ein Staat, wäre Tobias so etwas wie der Botschafter.

Warum nicht gleich inklusiv wohnen?

Die Idee für eine inklusive Wohnungsbörse kam ihm vor etwa zwei Jahren, Hilfe für die konkrete Umsetzung fand er bei den WG-Betreibern von Gemeinsam Leben. Mithilfe einer Agentur baute er die Webseite. Seit dem Start wird er auch von seiner WG unterstützt, alle schreiben Blogbeiträge und werben für das inklusive Wohnen.

Heute Abend sind einige der WG noch ausgeflogen. Tobias, Lena, Hannes und Teresa sind da, Gesa hat noch einen Freund mitgebracht. Der Tisch auf der geräumigen Terrasse ist mit Tellern, Gläsern und der Salatschüssel gedeckt. Die gefüllten Paprika sind fertig und die meisten Esser sitzen schon zusammen. Die WG-Katze Martha tigert zwischen ihren Beinen herum. Tobias Polsfuß steht noch in der Küche und überprüft, ob nichts fehlt.

Auch wenn sich jeder zurückziehen kann, sofern er keinen Tagesdienst hat, steht die Gemeinschaft im Vordergrund. Gekocht wird jeden Abend, auch wenn nicht alle da sind. Und wenn das Wetter gut ist, sitzt die WG wie heute zusammen beim Abendessen draußen. Tobias hat sich dazugesetzt, die Salatschüssel wird herumgereicht. Die WG redet über Filmmusik und darüber, dass man "echt mal wieder Titanic gucken sollte". Im Münchner Norden versinkt die Sonne hinter dem Sozialbau. Ein Gast bei so einem Abendessen könnte sich die Frage stellen, warum diese Art zu wohnen eigentlich immer noch etwas Besonderes ist.