Die Satirepartei Die PARTEI ist im Wahlkampfmodus. Erst kürzlich lief im ZDF der Wahlwerbespot, den sie der zivilen Seenotrettungorganisation Sea-Watch überlassen haben, und der dazu aufruft, das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Den Wahlwerbespot, der eigentlich keiner ist, haben auf Youtube fast 300.000 Menschen gesehen. Zum Vergleich: Der Europawahlwerbespot der SPD hat nur knapp über 50.000 Views.

Martin Sonneborn sitzt seit 2014 für die PARTEI im Europaparlament. Er kandidiert auch bei der diesjährigen Europawahl am 26. Mai. Und dieses Jahr hofft nicht nur er auf den Wiedereinzug – Die PARTEI möchte einen zweiten Kandidaten ins Parlament hieven: den 33-jährigen Nico Semsrott. Wir haben mit ihm gesprochen.

ze.tt: Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet die PARTEI den ernsthaftesten Wahlwerbespot aller Parteien gezeigt hat?

Nico Semsrott: Als Satiriker können wir immer nur reagieren. Das Video ist eine Reaktion und zwar einerseits auf die grausame Realität im Mittelmeer und zum anderen auf die unpolitische Wahlkampflandschaft, die wir haben. Wir haben diese merkwürdige Situation, in der viele Menschen politischer sind als die Politiker selbst.

Was bedeutet es, Politik mit satirischen Mitteln zu machen?

Als Satiriker müssen wir mit dem arbeiten, was wir haben. Wir haben eine Social-Media-Landschaft, die mit Klicks und Reichweite funktioniert. Dann ist die Frage: Wie bekommen wir eine maximale Reichweite? Wenn wir glauben, progressive Inhalte nur dadurch verbreiten zu können, indem wir sie überspitzen, dann ist das unser Mittel der Wahl.

Aber muss man dafür für die Europawahl kandidieren und so der progressiven Opposition eventuell sogar wichtige Stimmen wegnehmen? Warum reicht eine Kommentierung nicht aus?

Martin Sonneborn ist unter den progressiven Politikern – zumindest bei der Wählerschaft der Unter-40-Jährigen – garantiert der bekannteste. Er ist derjenige, von dem man am meisten mitbekommt. Ich glaube total daran, dass Demokratie nur mit Öffentlichkeit funktionieren kann. Und dementsprechend braucht es Satiriker als flankierende Unterstützung.

Natürlich wird es trotzdem noch dreißig progressive Politiker aus Deutschland geben. Die Frage lautet: Wählt man statt der PARTEI besser einen 31. progressiven Politiker, von dem man nichts mitbekommt, oder unterstützt man jemanden, der dieser gemäßigten Demokratie in der Europäischen Union ein bisschen mehr Kontrolle durch Aufmerksamkeit verschafft. Wir sehen uns als notwendige Ergänzung zu progressiven Politikern.

Im März 2018 wurde über einen Antrag zu einem Bericht über die Grundrechte in der EU abgestimmt. Es ging um das Formulieren einer gemeinsamen Position, nicht um verbindliche Gesetze. Dennoch: Martin Sonneborn stimmte dabei unter anderem gegen die Aufforderung an alle EU-Mitgliedsstaaten, sogenannte Konversionstherapien für LGBT-Menschen zu verbieten – zusammen mit Politiker*innen wie Jörg Meuthen von der AfD oder Manfred Weber von der CSU. Das Magazin queer warf ihm dafür Homophobie vor. Kannst du die Wut verstehen?

Grundsätzlich ist das natürlich ein sehr unglückliches Symbol. Martin Sonneborn hat mir erklärt, da bei Manfred Weber abgeschaut zu haben. Ich lerne daraus für mich, dass ich auf jeden Fall nie bei Abstimmungen bei Manfred Weber oder der konservativen Seite abschauen werde. Ich werde bei solchen Fällen immer bei Politikern abgucken, die nicht so eine menschenverachtende Politik machen.

Symbolisch kann ich die Wut verstehen und gleichzeitig ist es absurd, diese Debatte zu führen. Hier wird Sonneborn strenger kontrolliert als alle Leute, die ganz ernsthaft abstimmen und diese bösartige Entscheidung unterstützen. Da wird meiner Meinung nach dürftig unterschieden zwischen ihm und Leuten, die das ernst meinen.

Martin Sonneborn hat sich vorgenommen, immer abwechselnd mit Ja und Nein abstimmen zu wollen. Das Schlimme an Manfred Weber ist ja, dass er nicht abwechselnd mit Ja und Nein abstimmt, sondern tatsächlich der Meinung ist, dass Konversionstherapien nicht verboten gehören.

Das heißt, du möchtest das abwechselnde Ja-Nein-Stimmverhalten nicht beibehalten?

Grundsätzlich nehme ich mir vor, immer mit Nein abzustimmen. Aber vermutlich werde ich da schummeln.

Würdest du dich eher als Aktivisten oder als Politiker bezeichnen?

Ich würde mich als Passivisten bezeichnen. Das heißt, ich möchte schlimmere Politik verhindern. In der nächsten Legislaturperiode wird es im Europaparlament höchstwahrscheinlich eine Mehrheit an konservativen und rechten Politikern geben. Und da ist es wichtig, die progressive Opposition so gut es geht zu stärken. Und das geht über Öffentlichkeit, über Informieren, zu zeigen, wie die Arbeit des Europäischen Parlaments abläuft, und welche Macht die 20.000 Lobbyisten, die dort in Brüssel und Straßburg arbeiten, im Gegensatz zu den etwa 750 Parlamentariern haben.

Das klingt eher nach Aktivität als Passivität.

Ja, das ist mir als Demotivationstrainer noch etwas unangenehm, aber höchstwahrscheinlich werden sie mich so provozieren, dass ich immer aktiver werde. Das wird eine Entwicklung sein, die nicht aufzuhalten ist.

Wir haben diese merkwürdige Situation, in der viele Menschen politischer sind als die Politiker selbst.

Würdest du dich eher als Satiriker oder als Aktionskünstler bezeichnen?

Ich glaube, ich bin beides. An der neuen Rolle finde ich gut, dass ich nicht mehr in einem Käfig bin, auf dem "Hier lebt ein Satiriker" draufsteht. Sondern, dass ich draußen in freier Wildbahn unterwegs bin, Satire betreibe und viele Leute tatsächlich irritiere. Das ist die viel schönere Umgebung, als wenn man in einer Satiresendung auftritt und allen klar ist, nach welchen Regeln die funktioniert. Das ist etwas Schönes, dass man Debatten anstoßen kann, weil die Leute irritiert sind und fragen: Meinen die das jetzt ernst?

Ist Die PARTEI konstruktiv oder destruktiv?

Ich finde, eine Debatte in einer Demokratie anzustoßen und Öffentlichkeit zu schaffen, ist konstruktiv. Wir binden Menschen, die sehr an Politik interessiert sind, an uns und schaffen es, dass sie nicht zu Nichtwählern werden, sondern diese Form des Protests unterstützen – das ist konstruktiv.

Wählst du dich selbst?

Ich habe noch einmal meinen Wahlwerbespot angeschaut, der hat mich ziemlich überzeugt. Aber aufgrund des Wahlgeheimnisses kann ich nicht sagen, ob ich mich selbst wähle.

Welches politische Thema liegt dir am meisten am Herzen?

Ich antworte jetzt einfach mit dem Thema, das mir als erstes in den Kopf kommt: psychische Krankheiten. Dass es Menschen in diesem System so schlecht geht und sie fallen gelassen werden. Ich habe aber ehrlich gesagt noch überhaupt nicht recherchiert, was ich im Europäischen Parlament dazu machen kann.

Meine Standardantwort wäre, als Kommissionspräsident in Europa die Demokratie einführen zu wollen, notfalls gegen den Willen der Wählerinnen und Wähler. Es ist wirklich frappant, dass das Europäische Parlament kein Initiativrecht hat, also keine Möglichkeit hat, selbst Gesetze auf den Weg zu bringen.

Das Parlament kann nur in Verhandlungen mit dem Rat und der Kommission am Gesetzgebungsprozess teilhaben. Und die Parlamentarier können auch nicht die Kommission, also die europäische Regierung, selbst bestimmen. Das ist aus demokratischer Sicht höchst schwierig. Auch, dass das alles maßgeblich unter Ausschluss der europäischen Öffentlichkeit stattfindet. Grundsätzlich wünsche ich mir einfach eine europäische Demokratie.

Ist es manchmal schwierig, die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Satire zu finden?

Total. Ich selbst zähle mich ja zum Realo-Flügel der PARTEI, das heißt, man arbeitet mit satirischen Mitteln und versucht zusätzlich auch noch sehr gute Politik zu machen. Teamintern diskutieren wir die ganze Zeit: Sind wir zu ernst? Sind wir zu lustig? Ist das zu dadaistisch? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was wir da tun. Wir raten da eigentlich mit jedem Tweet, mit jeder Veröffentlichung und gucken, was passiert. Es ist ein andauerndes Experimentieren. Das ist das Schöne an Satire: wir spielen. Es ist aber ein sehr ernsthaftes Spielen mit ernsthaften Motiven.

Wenn es die PARTEI nicht gäbe, welche Partei würdest du bei der Europawahl unterstützen?

Ich würde mir anschauen, welche Parteien sich ebenfalls gegen eine Übermacht der Lobbyisten wehren, die für Transparenz arbeiten, für Menschenrechte, für Machtteilung und Demokratie. Da gäb's dann nicht mehr so viele. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Du hattest schonmal den SPD-Mitgliedsantrag bei dir zu Hause liegen, hast ihn aber nicht ausgefüllt. Hast du ein besonderes Verhältnis zur Sozialdemokratie?

Ich denke, die Hälfte der Menschen in Deutschland hat ein besonderes Verhältnis zur Sozialdemokratie. Bestimmt fünfzig Prozent der Menschen sind heimliche Sozialdemokraten und sie und die SPD-Wähler sind sehr enttäuscht davon, wie die letzten zwanzig, dreißig, vierzig Jahre verlaufen sind. Satiriker sind ohnehin enttäuschte Idealisten und ich denke, wir haben insofern auch für enttäuschte Sozialdemokraten offene Arme.

Was können die anderen Parteien von euch lernen?

Politische Kommunikation. Ich glaube, die Wählerinnen und Wähler unter vierzig Jahren werden komplett ignoriert, weil wir ja auch eine relativ kleine Wählergruppe sind. Es wäre ziemlich schön, wenn sich die Parteien um diese Wählerinnen und Wähler auch in Sachen Kommunikation kümmern würden. Ich empfinde alles, was die anderen Parteien machen, als unfassbar dröge und langweilig – was die Plakate und Videos angeht. Das muss, glaube ich, nicht sein. Es gibt Möglichkeiten, das unterhaltsamer auf den Punkt zu bringen und das würde ich denen auch empfehlen.

Ich glaube zum Beispiel, dass es kein gutes Zeichen ist, wenn die Grünen die Kommentare unter ihrem Wahlwerbespot auf Youtube schließen. So funktioniert politische Kommunikation nicht. Da muss man zumindest für diese Wahlkampfzeit einen Praktikanten einstellen, der das Ganze moderiert.

Mir kommt auch der ganze Wahlkampf anachronistisch vor. Ich finde es aus einem idealistischen Prinzip total gut, in Fußgängerzonen zu gehen und da einen Wahlkampfstand zu betreiben. Aber dann steht da ein Politiker für einen halben Tag, erreicht vielleicht vierzig Leute, dreißig würden ihn eh schon wählen und von den anderen zehn überzeugt er fünf – das ist doch keine moderne Kommunikation. Wie altbacken und ideenlos die Parteien dieses Konzept im Grunde seit der Gründung der Bundesrepublik durchziehen, ist mir ein Rätsel. Warum gibt man sich nicht Mühe und macht einmal einen Clip, der von vielen Leuten geguckt wird und eine ganz andere Reichweite hat?

Die PARTEI ist eine herrlich widersprüchliche Partei und deshalb passt sie sehr gut in unsere Zeit.

Also weniger Straße, mehr Internet?

Eigentlich beides, aber noch viel mehr Internet. Man kann da nach den Spielregeln spielen, ohne lügen zu müssen und ohne zu verfälschen. Man muss nicht so werden wie die AfD.

Martin Sonneborn sitzt im EU-Parlament in der Nähe des NPD-Mitglieds Udo Voigt, der ebenfalls keiner Fraktion angehört. Hat er dir Tipps gegeben, wie man mit Rechtsextremen in so großer Nähe umgeht?

Er hat mich schon davor gewarnt, dass die Leute da sehr streng riechen. Für mich wäre das vermutlich ein Grund, zumindest in Fraktionsverhandlungen zu gehen, um zu prüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, nicht bei den Nazis sitzen zu müssen.

Welche Fraktionen kämen dafür infrage?

Ich glaube, ich werde mit allen demokratisch gesinnten Fraktionen sprechen, beziehungsweise fragen, ob die mit mir sprechen wollen. Daraus könnte man dann schon ein erstes interessantes Video machen.

Zählst du dazu auch die EVP?

Kommt darauf an, welchen Ansatz ich für das Video nehme. Wenn ich einen satirischen Ansatz wähle, dann würde ich natürlich auch bei der EVP nachfragen, was sie mir zu bieten haben, und dann würde ich einfach das höchste Angebot annehmen. Aber wenn ich einen ernsthaften Ansatz verfolge, dann natürlich nicht. (lacht) Ich glaube, ich habe mir mit dieser Aussage alle Verhandlungsoptionen mit der EVP verspielt.

Holst du dir Wohnungen in Straßburg und Brüssel?

Ja. Ich werde nach Brüssel ziehen, wenn ich gewählt werden sollte. Ich mein's ernst.

Solltest du ins Parlament einziehen – worauf freust du dich am meisten?

Plötzlich fünf Jahre mit einem sehr guten und kompetenten Team an politischen Themen arbeiten zu können. Das stell ich mir abgefahren vor. Ich dürfte dann vier Leute einstellen und mit denen rund um die Uhr an unseren Themen arbeiten.

Weißt du schon, wen du mitnehmen würdest?

Nein. Aber ich bekomme komischerweise schon Bewerbungen. Das irritiert mich sehr. Ich würde auf jeden Fall mehr Frauen einstellen als Männer. Es ist schon so peinlich, dass wir eine männliche Doppelspitze sind. Ich muss das unbedingt ausgleichen. Das kündige ich jetzt auch überall an, damit ich das dann auch umsetze. Eine Frauenquote von mehr als fünfzig Prozent oder eine Männerobergrenze wären in meinem Büro wichtig.

Ist das nicht ein bisschen gegensätzlich, einerseits eine Frauenquote zu fordern, sie gleichzeitig aber nicht aktiv umzusetzen?

Ich glaube, die offizielle Position der PARTEI zur Frauenquote ist "keine Ahnung". Meine persönliche ist: Ja, auf jeden Fall. Ich als Mann wollte nicht auf den Listenplatz 2 verzichten, bin aber trotzdem für die Frauenquote – das ist der beste Beweis dafür, dass es eine Frauenquote braucht. Selbst Männer wie ich, die eigentlich dafür sind, verzichten nicht freiwillig. Natürlich ist das widersprüchlich, ich bin ein komplett widersprüchlicher Mensch, so wie jeder andere auch. Und die PARTEI ist eine herrlich widersprüchliche Partei und deshalb passt sie sehr gut in unsere Zeit.

Ende Mai wählen eine halbe Milliarde Menschen das Europäische Parlament. Doch was bedeutet Europa für junge Menschen, was wollen die Parteien – und wie funktioniert die EU? Das und mehr erfahrt ihr auf unserer Europawahl-Themenseite.