Jedes Wochenende leert Sebastian Schultheiss das Postfach. Meistens findet er drei bis fünf Karten darin. Darauf Geheimnisse von Menschen, die er nicht kennt. Sie schreiben über das, was die Menschen in ihrem engsten Umfeld wohl nicht wissen. Schultheiss veröffentlicht sie alle auf einer Webseite. Das macht er seit 2008.

Für den 35-jährigen studierten Bioinformatiker ist das Kunstprojekt zum Hobby geworden. 2014 ist ein Buch erschienen, doch das Projekt ging weiter. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie es ist, Geheimnisse von Menschen zu lesen, die er selbst nicht kennt.

ze.tt: Wieso lässt du dir Geheimnisse auf Postkarten schicken?

Sebastian Schultheiss: Ich habe die

PostSecrets 2007 im Internet entdeckt. Frank Warren hat das Projekt zwei Jahre zuvor in den USA gestartet. Ich habe damals ein Jahr in den USA gelebt und da sind mir Unterschiede zwischen Deutschland und den USA aufgefallen. Wie schnell US-Amerikaner bei persönlichen Themen sind, zum Beispiel. Und die Geheimnisse auf den US-amerikanischen

PostSecrets kamen mir recht intim vor – und ich habe mich gefragt, ob die auf deutsch auch so wären.

Also habe ich Frank Warren gefragt, ob er es unterstützen würde, dass ich das Ganze in einer anderen Sprache machen würde. Nach ein paar Kontaktversuchen habe ich ihn tatsächlich erreicht und wir haben telefoniert. Er hat ein paar Sachen abgefragt und wollte, dass jemand das längerfristig macht. Wir haben zusammen entschieden, dass ich dafür ein Postfach einrichte, anstatt eine Privatadresse anzugeben.

Was magst du an dem Konzept?

Die Karten faszinieren mich, weil sie so künstlerisch und teilweise typografisch sind. Mich fasziniert aber auch die Tatsache, dass man mit ein oder zwei Sätzen ein Problem erfasst und sich so viele Menschen damit identifizieren können – vermutlich, weil so viele Details fehlen. Und weil es um das Wesentliche geht.

Die Autoren bleiben anonym und können ihr Geheimnis teilen – ohne, dass sie deswegen anders angesehen werden von den Leuten, die sie kennen. Weil es Postkarten sind, können auch der Postbote oder Mitarbeiter der Post sie lesen. Und später dann die Leute, die auf die Internetseite des Projekts gehen.

Schreiben dir Leute auch längere Briefe?

Ich hab mal einen Umschlag mit einem Brief bekommen, der eindeutig nicht wegen PostSecret geschrieben wurde, sondern aus einem anderen Grund. Auf dem Umschlag stand, dass der Autor oder die Autorin den Brief eigentlich jemandem geben wollte und sich nicht getraut hat. Ich habe den Umschlag nicht aufgemacht.

Was macht das mit dir, wenn du Geheimnisse anderer Leute bekommst und liest?

Ich mag die Idee, dass man Sachen loswerden kann, wenn man sie aufschreibt. Ich finde es gut, dass die Leute ihre Karten grafisch gestalten und sich eine Weile damit beschäftigen und sie dann abschicken – und sich so von dem Geheimnis lösen und dann sagen können: Das ist jetzt nicht mehr nur mein Geheimnis.

Was kann es anderen Menschen geben, Geheimnisse von Fremden zu lesen?

Die Karten schaffen Mitgefühl und Solidarität.

Wie unterscheiden sich die deutschen Geheimnisse von den US-amerikanischen?

Die deutschen Geheimnisse sind nicht so ‚Das ist mein Geheimnis und ich möchte das der Welt mitteilen‘ – wie bei den US-amerikanischen – sondern sind eigentlich an jemand anderen adressiert. Die Leute veröffentlichen das aber lieber anonym, anstatt es der Person zu sagen, um die es eigentlich geht.

Kommen die Leute auch aus der Anonymität und melden sich bei dir mit Klarnamen?

Manche melden sich per E-Mail, wenn ihre Karte auf der Webseite veröffentlicht ist. Sie wollen, dass sie wieder runtergenommen wird, weil sie wegen der Handschrift oder anderer Details befürchten, doch erkannt zu werden.

Einmal schrieb mir ein Mann eine Mail zu einer Postkarte, die er auf der Webseite gesehen hatte. Darauf stand: ‚Renn weg, ich werde dich nur ausnutzen‘. Er konnte genau beschreiben, wie der Umschlag aussah, in dem die Karte ankam – auch wenn ich die Umschläge nie zeige. Er erklärte mir, dass er gesehen habe, wie seine Freundin den Brief in den Briefkasten geworfen hatte und wollte sich vergewissern, dass es diese Karte war. Er sprach seine Freundin an, sie gestand – und versprach, ihn nicht auszunutzen. Er machte ihr daraufhin einen Heiratsantrag. Das ist dann eine schöne Geschichte.

Welche Karte hat dich am meisten berührt oder schockiert?

Es gibt welche, die von echten Verbrechen handeln. Eine Karte über einen Studenten, der Unterwäsche aus dem Studentenwohnheim klaut, ist da noch harmlos. Das sind Sachen, die man wahrscheinlich nicht von seinen Mitmenschen erfahren würde.

Manche Menschen schreiben auch über Suizidgedanken. Was löst das in dir aus?

Solche Karten bekomme ich öfter und ich glaube, dass solche Gedanken in unserer Gesellschaft deutlich häufiger vorkommen, als man denkt. Die Karten, bei denen es um Selbstmordgedanken geht, veröffentliche ich wie jede andere. Ich setze auf der Webseite noch Nummern für Telefonseelsorge dazu. Das ist die Antwort, die ich darauf geben kann.

Ich denke, die größte Hilfe ist es für diese Leute, zu sehen, dass die Karte veröffentlicht wird. Dass andere sie lesen und dadurch über die jeweilige Situation Bescheid wissen. Und der Gedanke daran, dass das mehr Leute jetzt wissen und dass die Welt trotzdem nicht untergegangen ist.

Bei solchen Karten gibt es aber auch manchmal Reaktionen per Email, die ich veröffentliche. Dort schreiben Menschen: ‚Mir ging es auch schon so. Mir hat dies und jenes geholfen' und das ist auch eine gute Antwort darauf.

Hast du auch ein Geheimnis, das auf eine Karte passen würde?

Bisher habe ich noch keine Karte selbst gestaltet. Ich denke nicht, dass ich konkret etwas hätte, was da drauf könnte. Bei den ganzen Karten, die ich sehe, da gibt es deutlich schwierigere Situationen, als ich sie erlebt habe, deswegen rückt das auch die eigenen Probleme in eine neue Perspektive – und die wirken dadurch weniger schlimm.