Will und Becky sehen aus, als wären sie glücklich verliebt. Die beiden stehen im Abendlicht, sie umarmt ihn von hinten. In Wirklichkeit kennen sie sich erst seit wenigen Minuten – und werden wohl auch nach der Aufnahme wieder getrennte Wege gehen. Will und Becky bilden ein Motiv der Fotoreihe Touching Strangers des US-amerikanischen Fotografen Richard Renaldi. Zwischen 2007 und 2014 sprach dieser komplett fremde Leute auf der Straße an und bat sie darum, zusammen für ihn zu posieren und dabei physisch miteinander zu interagieren, auf eine Art, die eigentlich nur engen Vertrauten vorbehalten ist. Dabei mussten seine Protagonist*innen oft aus ihren Komfortzonen heraustreten.

Renaldi traf auf überraschend viele großzügige Menschen

"Normalerweise reagierten die Leute, wenn ich sie ansprach, mit Neugier. Und dann kam die Frage: 'Aber wie?'. Sie hatten nicht wirklich eine klare Vorstellung davon, wie sie miteinander interagieren sollten", erzählt Renaldi. Er habe diese Lücke dann gefüllt, in dem er in die Rolle eines Regisseurs geschlüpft sei. Manchmal machte sich auch ein bisschen Unbehagen breit, aber fast genauso oft sei er auf Enthusiasmus gestoßen: "Die Reaktionen waren so divers wie die unterschiedlichen Subjekte, die ich zu katalogisieren versuche – entweder als Paare oder in Gruppen."

Für sein Langzeitprojekt porträtierte Renaldi Menschen überall in den USA. Dabei fotografierte er mit einer ungewöhnlichen Kamera, einer 8x10-Großformatkamera, die an vergangene Zeiten erinnert. Obwohl es manchmal einiger Überredungskunst bedurfte, um die Leute zu den Fotos zu bewegen, überraschte es Renaldi, wie großzügig die meisten Menschen waren: "Ich habe sie einfach gefragt, etwas für mich zu tun, fremde Personen gefragt, ob sie am Prozess meiner Kunst beteiligt sein und mit mir kooperieren wollen", berichtet er. Er habe so viele positive Antworten bekommen, das sei unglaublich gewesen. "Ich musste nur fragen. Ich glaube, das war mir vorher nicht klar."

Plötzlich intim

Was seine Fotos so besonders macht? "Ich denke, das ist dem Betrachter überlassen. Für mich fühlte es sich immer in den Momenten besonders an, wenn ich das Gefühl hatte, dass gerade etwas Seltenes und Nicht-Wiederholbares passierte."

Tatsächlich vermitteln die Bilder eine ungewöhnliche Intimität zwischen den fotografierten Personen. Obwohl man als Betrachter*in weiß, dass sich die Gezeigten völlig fremd sind und es sich nur um einen flüchtigen Moment der Nähe handelt, versucht man doch, eine Geschichte dahinter zu finden. Wer sind diese Leute? Wie könnten sie zueinander stehen?

2014 wurde die Bilderreihe in Buchform veröffentlicht, Ende vergangenen Jahres auch in Taschenbuchversion gedruckt. Auf die Frage, wie sich seine Sichtweise auf Touching Strangers seit den ersten Fotos verändert hat, sieht Renaldi eine neue Relevanz seines Projekts in der heutigen Zeit: "Mit dem weltweiten Aufstieg von Nationalismus, Autoritarismus und Neofaschismus und der immer größer werdenden Kluft zwischen Republikanern und Demokraten in den Vereinigten Staaten habe ich das Gefühl, dass es eine wichtige soziale und kulturelle Bedeutung hat, verschiedene Gruppen von Menschen zusammenzubringen und einen Moment der Intimität miteinander zu teilen." Seine Bilder bleiben eine zeitlose Erinnerung daran, dass das möglich ist.