Peniskritzeleien gehören zu den meist gezeichneten Motiven auf diesem Planeten. Eine Ursachenforschung.

Gut einen Meter groß, zwei Kreise, eine Ellipse plus Linie, das ergibt: einen Riesenpenis. Ironischerweise war er – wie so häufig – mit lauter kleinen Haaren verziert, obwohl das in natura ja irgendwie vollkommen aus der Mode sei. Der Fundort dieses subtilen Kunstwerks ist so klischeehaft wie selbstverständlich: die Umkleidekabine einer Sporthalle, die Urheber*innen demnach wahrscheinlich pubertierende Teenies.

Nur: Was soll das? Was haben die Leute davon, Penisse an Häuser, Schulen, Autos, Tafeln, Bäume, Wahlzettel, Kunstwerke zu krakeln? Woher kommt die ungeheure Faszination, die über 400.000 Facebooknutzer*innen zu einem Gefällt-Mir zum Beispiel unter der, hm, sagen wir phallischen Neuinterpretation der australischen Tageszeitung Herald Sun animieren?

Penis als Protest

Lauren Rosewarne, Doktor für Politik- und Sozialwissenschaften an der University of Melbourne in Australien, ist eine der Forschenden, die dem Penis-Phänomen auf den Grund gehen. Ihrer Meinung nach gibt es nicht die eine Erklärung für ein Penis-Motiv. So seien die Phalli auf der Herald Sun zum Beispiel anders zu interpretieren, als der Gewohnheitspenis auf der Schultoilette: "Solche Zeichnungen sind Ausdruck einer kontroversen Einstellung – vor allem, wenn sie aus dem Kontext gerissen oder Teil von Graffitis und Vandalismus sind. Zwar ist das Bild eines Penis nichts Besonderes, bietet jedoch immer eine gewisse Brisanz." Rosewarne zufolge ist ein wohl platzierter Phallus nichts anders als ein Akt der Rebellion: ein wie auch immer gearteter Protest.

In Australien hat der Penis sogar schon durchaus politische Dimensionen angenommen: Eine ganze Reihe australischer Wahlzettel zierte bei der Parlamentswahl 2016 anstatt ordentlicher Wahlkreuze ein herzhafter Phallus. Rosewarne, die die Fälle untersuchte, deutet die Skizzen nicht einfach als kindisches Gehabe, sondern als Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem System: ein gepflegtes "Fickt euch doch!".

Das ist durchaus bemerkenswert. Die Urheber*innen der Werke hätten sich ja auch einfach enthalten können. Stattdessen wollten sie ihrer Ablehnung ein Symbol geben. Demselben Gedanken folgte wohl auch das russische Street-Art-Ensemble Voina (russisch für Krieg), als es 2010 einen mehrstöckigen Protestpenis an ein Hochhaus in St.-Petersburger pinselte.

Penis-Graffiti als Gebietsmarkierung

Nun steckt natürlich nicht hinter jedem Penis-Graffito ein politisches Manifest. Auch das gewaltige Exemplar an der Wand der Umkleidekabine war vermutlich keine tiefschürfende Systemkritik. "Manchmal sind Penis-Graffiti auch einfach eine Art territoriale Markierung. Frei nach dem Motto: ‚Ich war hier‘ ", sagt Rosewarne. Vor allem während der Schulzeit erfreut sich diese Art der Penis-Skizze herausragender Beliebtheit. Lehrer*innen aller achten und neunten Klassen – egal welcher Schulform – könnten ein Lied davon singen.

Das ist vor allem pubertärer Show-off, meint Rosewarne: "Der Penis ist ein Symbol der Stärke – ein Totem, wenn man so mag. Wenn man es irgendwo hinzeichnet, demonstriert und illustriert man einen Akt der Maskulinität." Dementsprechend stammen die meisten Phallus-Graffiti von jungen oder junggebliebenen Männern. Frauen als Penis-Artists sind insgesamt eher Mangelware.

Zieht man den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan zu Rate, liegt das an einem tiefgreifenden Unterschied. In seinem Traktat Die Bedeutung des Phallus zergliedert er die Menschen in zwei Gruppen: Jene, die der Phallus sind, sind weiblich und zumeist, aber nicht nur, Frauen, und jene, die den Phallus besitzen sind ihm zufolge männlich und zumeist, aber nicht nur, Männer. Weiblichkeit bedeute in diesem Kontext, ein Begehren zu begehren, Männlichkeit, ein subjektiviertes (sexuelles) Begehren zu haben. Dieses subjektivierte Begehren äußere sich in einer sogenannten zentrifugalen Tendenz, die die Männlichen antreibt, ihre Männlichkeit zu verbreiten – und sei es nur symbolhaft durch einen gekritzelten Penis.

Vulva-Bilder gibt es kaum

Natürlich ließe sich Lacans ganze Theorie als chauvinistischer Antifeminismus verbrämen – schließlich stammt diese Theorie aus den 1950ern –, doch selbst Theorien modernerer Feminist*innen wie Judith Butler fußen zu einem gewissen Teil auf Lacans Werk. Trotzdem gibt es eines so gut wie nie: Graffiti von Vulven. Fast kein Mädchen kommt in der Schule auf den Gedanken, eine Vuva in den Tisch zu ritzen oder an die Wand zu sprayen. Warum ist das so?

"Natürlich könnte man damit argumentieren, dass ein Penis viel einfacher zu symbolisieren ist, als eine Vulva. Andererseits hat ein Vulva-Graffiti nicht dieselbe kulturelle Bedeutung wie ein Penisbild. Es hat auch nicht dieselbe Verbindung zu Stärke. Von daher ist es verständlich, dass sie größtenteils fehlen", sagt Rosewarne. Das muss natürlich nicht so bleiben. Vielleicht regt sich demnächst ja künstlerischer Widerstand gegen den Status quo. Wünschenswert wäre, wenn dann Vulven Seit an Seit mit Penis-Graffiti die Wände der Umkleidekabinen, nun ja, schmücken.