"Ist ja schön, wenn man Menschen aus seiner Vergangenheit auch später noch im Herzen hat und so – aber ich hätte damit, glaube ich, ein Problem", sagt mein Kommilitone. Wir sitzen im Bus auf dem Weg zur Uni und diskutieren, wie so oft, das Leben und die Liebe. Derzeit geht’s um verflossene Lieben und Herzen, die schon eine ganze Weile auf der Welt sind, viel erlebt, gesehen und geliebt haben.

Meine These: In einem Herzen kann durchaus Platz für mehrere Menschen sein, in verschiedenen Abstufungen, manche weiter vorn, andere weiter hinten; sie alle gehören schließlich irgendwie dazu. Er hingegen meint: Eine neue Beziehung sollte ein Neuanfang sein und die Vergangenheit gehöre ins Früher.

Und ich erinnere mich an die Kennenlernphase mit meinem Exmann – wie wir gerade mal 21 und sehr verliebt waren, zusammen in den Park gingen und alle Liebesbriefe von Verflossenen gemeinsam in ein kleines Feuer warfen. Tschüss, Vergangenheit!

Tja. Papier verbrennen ist das Eine – was aber ist mit den Erinnerungen und Gefühlen? Die lassen sich nämlich nicht so einfach abfackeln. Wie also gehen wir mit dem Thema Vergangenheit um, wenn wir einen umwerfenden Menschen treffen?

Wie viel Vergangenheit verträgt das Jetzt?

Klar ist: Jede*r, der*die ein gewisses Alter erreicht, hat nun mal ein Leben. Zu diesem Leben gehören Erfahrungen genauso wie Menschen. Das ist einfach der natürliche Lauf der Dinge. In der Phase des Kennenlernens ist das alles noch spannend und an sich nicht so wichtig; wir wollen uns von der besten und vor allem tolerantesten Seite zeigen und sind vorwiegend damit beschäftigt, die Schmetterlinge im Bauch zu bändigen.

Wer arg verliebt ist, will allerdings irgendwann jedes Fitzelchen über den*die andere*n erfahren: Welches Leben hat er*sie bisher geführt, welche Höhen und Tiefen gab es, was liegt ihm*ihr am Herzen, was nicht?

"Am Anfang kann man alles neutral hören. Erst nach und nach bildet sich ein Bild: Wer war wichtig, von welcher Art waren die vorherigen Beziehungen, wer von den früheren Menschen ist noch Teil des Lebens", sagt die Berliner Paartherapeutin Anna Holfeld.

Spätestens dann kann es knifflig werden: Wie viel von früher wollen oder müssen wir tatsächlich wissen und ertragen? "Jedes Paar muss gemeinsam entscheiden, wie viele intime Details geteilt werden sollen, womit beide umgehen können und was überfordert", erklärt Anna Holfeld. "Die Grenze setzt die andere Person. Jeder hat das Recht, zu entscheiden, was er oder sie teilen mag oder lieber für sich behalten möchte." Und die ist zu respektieren.

Also: Locker drüber reden ja; bohren, nachhaken und schmollen – nope. "Interesse bekunden, zeigen, dass man Fragen hat", so die Paartherapeutin. "Aber nicht drängen oder bewerten. Es braucht immer Vertrauen, Zeit und Achtsamkeit, wenn man sich von früher erzählt."

Eifersucht auf Früher? Nicht doch

Es mag jedoch in manchen Beziehungen der Punkt kommen, an dem eine*r von beiden anfängt, eifersüchtig auf in der Vergangenheit Geschehenes zu werden. Das ist aus verschiedenen Gründen keine allzu gute Idee; hauptsächlich deshalb, weil sich die Vergangenheit selbst beim besten Willen und mit der größten Liebe nicht ändern oder löschen lässt.

Meist habe das laut Anna Holfeld weniger mit der Vergangenheit an sich zu tun, sondern hänge vielmehr mit den Menschen von damals zusammen. Insbesondere, wenn sie noch immer Teil des Lebens sind. Und vor allem dann, wenn sich eine*r von beiden in der neuen Beziehung unsicher ist. Hier hilft reden: Inwieweit ist diese Unsicherheit (un)berechtigt, woher kommt sie wirklich und hat sie echt mit der Vergangenheit des*der anderen zu tun oder eher mit den eigenen Problemen und seelischen Wunden?

So sieht es auch die Paartherapeutin: "Wenn das Paar eine offene Kommunikationskultur pflegt und über Unsicherheiten, Ängste, Befürchtungen sprechen kann, ohne neue Verunsicherungen zu verursachen, dann kann das helfen."

Andererseits ist es natürlich, nachvollziehbar und okay, wegen bestimmter verpasster Dinge von früher hie und da ein wenig betrübt zu sein. "Man kann bedauern, etwas Bestimmtes nicht zuerst mit dem Partner oder der Partnerin erlebt zu haben oder bei einem wichtigen Ereignis nicht dabei gewesen zu sein", sagt Anna Holfeld.

Dabei aber den Fokus nicht verlieren: Ab jetzt beginnt diesbezüglich eine neue Zeitrechnung, Gegenwart und Zukunft sind noch unbeschriebene Blätter, die wir mit neuen Erinnerungen und Erlebnissen füllen.

Was preisgeben, was nicht?

Niemand sollte sich dazu genötigt fühlen, die Anzahl der bisherigen Sexpartner*innen zu enthüllen. Ebenso wenig wie sie zu verschweigen. Das ist schlicht eine sehr persönliche Entscheidung, und Dinge privat zu halten ist absolut legitim.

Es gibt allerdings durchaus Aspekte der Vergangenheit, die handfeste Folgen für Gegenwart und Zukunft haben. Und die irgendwann auf den Tisch gehören, wenn eine langfristige Lebenspartnerschaft angestrebt wird – weil sie tatsächlich beide betreffen und konkrete Auswirkungen haben können.

"In extremen Fällen – frühere Schulden, die heute oder in der Zukunft noch belastend sind, oder traumatische Situationen aus den vorherigen Lebensjahren des Partners oder der Partnerin, die die heutige Beziehungsfähigkeit beeinträchtigen können, wenn sie nicht aufgearbeitet werden – kann die Vergangenheit tatsächlich zum Problem werden", sagt Anna Holfeld.

Da hilft wirklich nur eins: offen miteinander reden. "Grundsätzlich sollten beide immer nach der Vergangenheit fragen können. Die Erfahrungen aus unserem früheren Leben bilden unsere Werte, begründen unser Handeln im Jetzt", so Anna Holfeld. "Es gibt in der Vergangenheit viele Erklärungen für aktuelles Verhalten." Und je besser wir einander kennen, desto besser können wir uns aufeinander einstellen.

Es ist außerdem nur fair, bei gravierenden Themen die Karten offen auf den Tisch zu legen. Auch und gerade dann, wenn sie unangenehm sind.

Vergangenheit ist over

Zudem gilt: Nicht alles, was früher passiert ist, würde heute noch genau so passieren, nicht jede Entscheidung so noch mal getroffen werden. Wir entwickeln uns durch Erfahrungen weiter. Es ist deshalb ein Irrtum, anzunehmen, die Vergangenheit wäre mit dem Heute gleichzusetzen.

Letztlich ist es so, dass die Vergangenheit uns formt und prägt. "Gegenseitig anzuerkennen, dass das, was passiert ist, dazu beigetragen hat, den Menschen zu der Person zu machen, die sie ist, das ist eine wichtige Grundvoraussetzung für die Kommunikation über die Vergangenheit", sagt auch Paartherapeutin Holfeld.

All die Dinge, die wir früher erlebt und durchgestanden, all die Personen, die wir früher geliebt haben, sind ein Teil von uns und haben uns zu den Menschen gemacht, die wir heute sind. Und das sind immerhin exakt die, die sich ineinander verliebt haben. Wer weiß? Vor ein paar Jahren wäre vielleicht gar nichts draus geworden. Und genau deshalb gilt: Alles ist gut so, wie es ist. Auch die Vergangenheit.