Juso-Chef Kevin Kühnert wird sein Amt im November abgeben. Er bewirbt sich für die kommende Legislaturperiode um ein Bundestagsmandat. Jessica Rosenthal könnte im Herbst seinen Posten übernehmen. Die Vorsitzende der NRW-Jusos verkündete in einem Spiegel-Interview, dass sie beim Bundeskongress im November kandidieren will.

Wir haben mit der 27-Jährigen darüber gesprochen, wie sie mit den Jusos den Bundestagswahlkampf prägen will, ob sich Kanzlerkandidat Olaf Scholz für progressive Mehrheiten eignet und ob die SPD genug für Diversität innerhalb der eigenen Partei macht.

ze.tt: Jessica, nächstes Jahr ist Bundestagswahl. Was wird die Aufgabe der Jusos dabei sein?

Jessica Rosenthal: Wir müssen vor allem dafür kämpfen, dass die SPD das Zukunftsversprechen an unsere Generation erneuern kann. "Meinem Kind wird es einmal besser gehen", davon konnte man in der Vergangenheit ausgehen. Heute gilt das längst nicht mehr für jede*n. Ich finde das zutiefst ungerecht.

Auch wir haben ein Recht auf eine Zukunft, die besser sein wird und wir fordern dieses ein. Aber dafür müssen wir jetzt große Veränderungen zum Positiven umsetzen. Das fordern wir als Generation an vielen Stellen, nicht nur im Umweltbereich. Die SPD muss die Partei sein, die sagt: Wir geben euch dieses Versprechen. Und wir unternehmen konkret etwas, um dieses Versprechen einzulösen.

Kevin Kühnert setzte sich vehement gegen eine Fortführung der GroKo ein. Wirst du das auch tun?

Als Jusos bleiben wir dabei, dass eine Große Koalition keine gute Lösung für das Land und die Demokratie ist. Mit Blick auf die Corona-Krise sehe ich natürlich, dass die SPD im Vergleich zum vergangenen Jahr entscheidende Akzente gesetzt hat. Zum Beispiel, dass man untere und mittlere Einkommen entlastet oder einen Familienbonus und eine Zulage für Strompreise eingeführt hat. Trotzdem streben wir dieses Bündnis als Jusos nicht an. Ich glaube, nach 16 Jahren Merkel ist es entscheidend, dass wir endlich eine progressive Mehrheit in diesem Land erkämpfen, mit der wir Veränderungen – und damit meine ich Verbesserungen – gestalten können.

Bist du enttäuscht darüber, dass Olaf Scholz als Kanzlerkandidat nominiert wurde?

Es geht nicht um Enttäuschung. Es geht darum, für progressive Mehrheiten zu kämpfen. Dafür braucht es eine starke SPD. Olaf Scholz hat während der Corona-Pandemie bewiesen, dass er ein Krisenmanager sein kann. Viel wichtiger als diese Personalie ist doch die Frage, welche Inhalte wir für den Bundestagswahlkampf setzen werden. Und da muss er Angebote an die Jusos und junge Menschen machen.

Das erwarte ich übrigens von jedem*r Kanzler*innenkandidat*in der SPD. Aber natürlich ist es auch klar, dass die Nominierung keinen euphorischen Jubelsturm bei den Jusos ausgelöst hat. Wir werden ihm eine ernst gemeinte Chance geben.

Was für Angebote müssten das sein?

Da komme ich wieder auf das Zukunftsversprechen zurück: Es muss wieder zur DNA der SPD gehören, dass wir für Zukunftsinvestitionen stehen. Dass wir für einen veränderten Sozialstaat stehen. Dass wir für eine Ausbildungsplatzgarantie stehen.

Das betrifft aber auch Fragen wie: Was ist eigentlich mit der Jugend während Corona? Ich finde, dass die Jugend weitestgehend vergessen wurde und zwar von der Schülerin bis zur Meisterin. Es ging in der Bildungspolitik nie darum, was Schüler*innen wollen oder wie Student*innen abgesichert werden können. Junge Interessen müssen mehr im Fokus stehen und die SPD muss dazu bereit sein, da richtig Geld in die Hand zu nehmen.

Welche Themenschwerpunkte leiten sich für dich daraus ab?

Das Zukunftsversprechen ist nicht eine Sache, die man nur mit einem kleinen Reförmchen hinkriegt. Es geht um eine politische Gesamtausrichtung. Das sind große Veränderungen. Wir müssen in die Zukunft investieren. Es heißt immer, jedes Kind soll schwimmen lernen – aber letztlich schließt statistisch gesehen jeden vierten Tag ein Schwimmbad in Deutschland. Es gibt marode Sportplätze, kaputte Straßen – das sind Dinge, die unsere Generation erbt. Wir müssen Schluss machen mit dem Märchen, dass wir nur Schulden erben werden. Wir erben auch eine marode Infrastruktur.

Wir erben auch eine marode Infrastruktur.
Jessica Rosenthal

Ich glaube auch, dass es wichtig ist, den Sozialstaat weiterzuentwickeln. Unser Ziel muss sein, Armut in einem der reichsten Länder der Welt zu vermeiden. Dafür müssen wir Hartz IV überwinden, ein Existenzminimum gewährleisten, uns gegen Befristungen einsetzen. Wir brauchen angesichts einer steigenden Jugendarbeitslosigkeit eine Ausbildungsplatzgarantie für junge Menschen und ein elternunabhängiges BAFöG.

Ich will, dass wir den Nahverkehr kostenlos nutzen können und trotzdem auch in 20 Jahren noch Industriestandort bleiben, indem wir beispielsweise weiterhin die besten Autos bauen. Und mit beste Autos meine ich: die nachhaltigsten. Das zeigt die große Herausforderung, vor der wir stehen: Wir müssen als Industriestandort weiter stark bleiben, aber wir müssen auch die ökologische Wende schaffen.

Du sagst einerseits, dass Olaf Scholz ein guter Krisenmanager war, andererseits wurden junge Menschen deiner Meinung nach nicht mitgedacht. Richtet sich diese Kritik nicht auch an Scholz?

Bei dem Krisenmanagement habe ich mich vor allem darauf bezogen, wie er als Finanzminister agiert hat. Das ist ja momentan die Rolle, die er hat. Als solcher hat er ganz deutlich gesagt, dass die Schuldenbremse soweit wie möglich Geschichte ist und wir investieren. Ein Gewinn für unsere Generation.

Aber in der Regierung sind mehr Menschen unterwegs. Zum Beispiel Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Als SPD haben wir dafür gestritten, dass es für Studierende mehr als nur 500-Euro-Kredite gibt. Aber an dieser Stelle war mit der Union nicht zu reden. Da beweist die Union wieder mal, dass sie vor allem eine Sache kann: ausbremsen. Und sie bremsen insbesondere Verbesserungen für junge Menschen aus. Das macht mich wütend, aber das ist nichts, was ich Olaf Scholz als Finanzminister ankreide.

Du sprichst viel von Investitionen, die getätigt werden müssen. Olaf Scholz hat als Finanzminister jahrelang die schwarze Null verteidigt, also dass Deutschland keine neuen Schulden aufnimmt. Auch wenn er dieses Ziel dieses Jahr aufgrund der Corona-Pandemie aufgehoben hat: Wie passt das zusammen?

Olaf Scholz ist Olaf Scholz. Es steht mir nicht zu, psychologisch zu analysieren, ob er sich in seinen Haltungen verändert hat. Ich kann aber anhand von Beschlüssen sagen, dass sich die SPD in ihren Haltungen verändert hat. Die SPD steht nicht mehr für die schwarze Null. Sie hat die Schuldenbremse beerdigt. Sie hat Hartz IV überwunden und sagt, wir brauchen ein Existenzminimum.

Wir sind keine Olaf-Scholz-Partei. Die SPD ist vielfältig.
Jessica Rosenthal

Diese veränderte SPD muss natürlich ein*e Spitzenkandidat*in abbilden, sonst kann er*sie kein*e gute*r Spitzenkandidat*in sein. Olaf Scholz muss diese Beschlüsse respektieren. Ich sehe aber bisher, dass er diese Beschlüsse – soweit wie möglich in der momentanen Regierungssituation – durchaus schon in Teilen umsetzt.

Wir müssen davon wegkommen, Politik so stark zu personifizieren. Wir sind jetzt keine Olaf-Scholz-Partei, Saskia-Esken-Partei oder Kevin-Kühnert-Partei. Die SPD ist vielfältig, hat viele Köpfe und Ideen, mit denen wir das Land verändern wollen. Wir müssen weg von dem Glauben an die eine Person, die angeblich alles bestimmen kann.

Im Spiegel-Interview betonst du mehrmals, wie wichtig innerparteiliche Einigkeit ist. Ist es ein Zeichen von Einigkeit, wenn ein Mann zum Spitzenkandidaten ernannt wird, der bei der Wahl zum Parteivorsitz nicht mal 50 Prozent der Stimmen erhalten hat – und dann auch noch ohne Parteitagsvotum?

Ich beziehe diese Einigkeit – auch in dem Interview, was ich vor der Nominierung gegeben habe – auf die gesamte Partei und insbesondere auch die Spitzenfunktionen. Nach der Wahl der Parteivorsitzenden hätte man zwei Wege bestreiten können: Man hätte sich weiter in Grabenkämpfen verlieren können und die Partei noch weiter auseinanderdriften lassen. Damit wäre ein Comeback der SPD keinesfalls möglich gewesen. Die Parteivorsitzenden haben sich aber für einen anderen Weg entschieden: Sie versuchen, auf die andere Seite zuzugehen und ein gemeinsames Ding draus zu machen. Sie agieren als Team.

Zum Prozess der Kanzler*innenkandidat*innenverkündung: Die Parteispitze hat sich entschieden, den Weg so zu gehen. Grundsätzlich ist bei so einem Prozess eine Einbindung von unterschiedlichen Teilen der Partei aber natürlich wichtig. Das muss noch folgen. Der*die Kanzler*innenkandidat*in wird beim Parteitag gewählt, und nicht vom Parteivorstand. Gleichzeitig war das eine einstimmige Nominierung von Gremien, die wir innerhalb der Partei demokratisch gewählt haben. Trotzdem liegen noch Schritte zwischen dem richtigen Ziel, dass sich alle geschlossen und entschlossen hinter dem*der Spitzenkandidat*in versammeln.

Könnte man das nicht auch so interpretieren, dass ein Mann zum Kanzlerkandidaten ernannt wird, der an der Basis nicht sonderlich beliebt ist?

Damals ging es um die Frage, wer die besseren Parteivorsitzenden sind. Und welchen Weg wir einschlagen wollen. Die Partei hat sich für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans entschieden. Das sagt aber nichts darüber aus, wer ein*e gute*r Kanzlerkandidat*in ist, weil darüber nicht abgestimmt wurde. Das sind unterschiedliche Funktionen und Rollen. Trotzdem glaube ich, dass seitens einer*s Spitzenkandidat*in eine klare Einbindung aller Parteiseiten passieren muss. Die Jusos sind ein wichtiger Teil der Partei. Wenn die nicht an Bord sind, glaube ich nicht, dass das funktionieren wird.

Im Wahlkampf um den Parteivorsitz warfen die Jusos Scholz mangelnde Glaubwürdigkeit vor. Kann er nun glaubwürdig linkere Positionen als Kanzlerkandidat vertreten?

Die demokratisch gewählten Parteigremien haben entschieden, dass man Olaf Scholz zutraut, das Kanzler*innenamt nach 16 Jahren Merkel zu erobern. Das heißt auch, dass man ihm zutraut, für eine progressive Mehrheit zu kämpfen. Das tue ich.

Am Ende geht es nicht darum: Olaf Scholz – ja oder nein. Es geht um eine Teamlösung. Linkere Position, die die Partei jetzt eingeschlagen hat, müssen deutlich werden. Die Partei ist nicht mehr dieselbe wie vor einem Jahr. Die Ausrichtung ist anders. Und das wird auch ein Olaf Scholz akzeptieren und repräsentieren müssen. Das ist der Unterschied.

Am Ende geht es nicht darum: Olaf Scholz – ja oder nein. Es geht um eine Teamlösung.
Jessica Rosenthal

Wie genau hat sich die Partei deiner Meinung nach progressiv verändert in den vergangenen Monaten?

Ich habe es ja gerade schon gesagt. Zum Beispiel, dass wir jetzt für Zukunftsinvestitionen stehen. Die SPD steht für ein verändertes Sozialstaatskonzept. Hartz IV ist Geschichte. Wir wollen diese Armutsfalle verändern, wir wollen ein Existenzminimum gewährleisten, wir wollen an die Sanktionen ran. Auch beim Thema der ökologischen Wende haben wir uns weiterentwickelt. Das sind alles Dinge, die darauf hindeuten, dass sich die SPD an vielen Stellen verändert hat.

Oder um es direkt zu sagen: Vor uns steht eine andere, bessere SPD, als noch vor zwei, drei Jahren. Das macht Mut. Wir können mit der SPD eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Vielen erreichen.

Als Jusos wissen wir aber auch, dass wir mit der Verbesserung der SPD noch längst nicht am Ziel sind. Aber für die Bundestagswahl haben wir viele entscheidende, inhaltliche Fragen als Partei schon geklärt. Das ist bisher noch nicht nach außen gedrungen, aber dafür ist eben auch ein Wahlkampf da.

Aus dem bisher Gesagten geht für mich hervor, dass Investitionen in Infrastruktur, Ausbau des Sozialstaats und Bildungspolitik deiner Meinung nach wichtige Baustellen in Deutschland sind. Was ist mit strukturellem Rassismus?

Die Jusos sind immer schon gegen jede Art von Faschismus und Rassismus, Hetze und Spalterei auf die Straße gegangen. Die Herkunft, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung und vieles mehr entscheiden heute noch immer über Lebenschancen. Das ist zutiefst ungerecht. Wir kämpfen gegen diese Ungerechtigkeit.

Ich bin froh, dass die AfD während der Corona-Krise an Zuspruch verloren hat. Aber erst, wenn die AfD aus jedem Parlament geflogen ist, haben wir den Kampf gegen diese Partei vorerst gewonnen. Auch danach müssen wir weiter an jeder Stelle dagegenhalten. Es wäre falsch, wenn wir uns als Gesellschaft spalten lassen und so tun, als wären die einen mehr wert als die anderen. Dieses "Wir gegen die" müssen wir überwinden.

Ich bin froh, dass die AfD während der Corona-Krise an Zuspruch verloren hat.
Jessica Rosenthal

Wenn man sich die rechten Strukturen in Teilen der Polizei oder in Teilen der Bundeswehr ansieht oder dass Nazis insbesondere in strukturschwachen Regionen Gebäude aufkaufen, dann macht mir das Angst. Und es macht mich wütend.

Seit der Bekanntgabe des SPD-Kanzlerkandidaten wird gerade in migrantischen und Schwarzen Communitys Kritik laut. Viele verweisen auf den Brechmitteleinsatz, den Olaf Scholz 2001 als damaliger Hamburger Innensenator einführte, um Drogendealer*innen zu überführen. Ein paar Monate später starb so der 19-Jährige Achidi John. Glaubst du, ihr erreicht Schwarze oder migrantische Communities mit dem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz?

Ich bin nicht die Anwältin oder Pressesprecherin von Olaf Scholz. Ich kann nur sagen, wie er jetzt als Bundespolitiker und Kanzlerkandidat zu dem Thema auftritt. Als Jusos kämpfen wir dafür, dass die SPD sich klar zu einer vielfältigen Gesellschaft bekennt, gegen Diskriminierungen, die viele Menschen im Alltag erleben und gegen strukturellen Rassismus an allen Stellen.

Die Frage ist nicht: Kann man Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten wählen? Sondern: Kann man die SPD bei der Bundestagswahl wählen?
Jessica Rosenthal

Das machen wir nicht nur, weil PoC eine Zielgruppe sind, sondern weil es eine tiefe Überzeugung der Sozialdemokratie sein muss, gegen jede Form von Rassismus, der Ungerechtigkeit und Diskriminierung anzukämpfen. Wir müssen die Partei sein, die für Menschen mit Diskriminierungserfahrung nicht nur wählbar ist, sondern auch die Partei, in der sie sich engagieren. Ich möchte nicht nur jungen Menschen sagen: Bitte tretet den Jusos oder der SPD bei. Sondern auch Menschen mit Diskriminierungserfahrung.

Du bist seit zwei Jahren Vorsitzende der NRW-Jusos. Was hat sich in dieser Amtszeit beim Thema innerparteiliche Diversität verbessert?

Als Jusos haben wir schon immer sehr selbstkritisch auf unsere eigenen Strukturen geschaut, zum Beispiel, was Vielfalt oder Geschlechtergerechtigkeit angeht. Aber es wäre falsch, zu sagen, wir sind schon zufrieden. Weil man genau mit dieser selbstgerechten Haltung das Problem verstärkt. Wir versuchen, Menschen mit anderen Lebenserfahrungen zu stärken, Räume zu schaffen, in denen man sich selbst empowern kann. Zum Thema Antirassismus und Antifaschismus haben wir beispielsweise eine Netzwerkstelle. In den letzten zwei Jahren gab es die ersten BIPoC-Vernetzungstreffen bei den NRW-Jusos.

Wir müssen den Anspruch haben, PoC als Mitglieder zu gewinnen.
Jessica Rosenthal

Das Thema beschäftigt uns nicht nur intern. Seit der Debatte zu Black Lives Matter fragen wir uns als Jusos: Was folgt daraus? Bleibt es bei einer einmaligen Protestwelle? Für uns ist das nicht genug. Es ist unsere Aufgabe, das immer wieder in die Gesellschaft hineinzutragen, unbequem zu sein, darauf hinzuweisen, dass noch etwas zu tun ist.

Wo siehst du die größten Baustellen, wenn es um mehr innerparteiliche Diversität geht?

Erstmal geht es darum, welche Themen wir setzen. Was bedeutet es, keine Wohnung oder keinen Job zu finden, weil ich beispielsweise ein Kopftuch trage und deshalb diskriminiert werde? Diese Fragen haben in unseren Debatten noch kein ausreichendes Forum. Der andere Punkt ist die Frage, wer überhaupt in die Partei eintritt. Wir müssen den Anspruch haben, PoC als Mitglieder zu gewinnen – das kann empowernd wirken.

Dieses Thema habe ich auch als Frau erlebt: Es gibt zu wenig Frauen, die sich in Parteien engagieren und dort in Spitzenpositionen kommen. Das liegt nicht daran, dass wir keine kompetenten Frauen hätten, sondern dass es kein Empowerment gibt. Teilweise sitzen Menschen in Positionen, die ihre Privilegien nicht reflektieren, auch wenn sie es vielleicht nicht böse meinen. Ich glaube, wir müssen bewusst Möglichkeiten schaffen, dass sich Menschen mit Diskriminierungserfahrungen einbringen. Die Mehrheitsgesellschaft muss zuhören. Dazu muss man sich seiner Privilegien bewusst werden und sich überlegen, wo sie für andere nachteilig sind.

Ich habe den Eindruck, dass viele in der Partei wissen, dass es da Nachholbedarf gibt. Aber natürlich gibt es ein breites Spektrum an Mitgliedern in der SPD, darunter auch welche, die noch kein Gespür für dieses Thema haben. Deshalb ist innerparteiliche Bildungsarbeit so wichtig. Da kann die SPD von den Jusos lernen.

Im Spiegel-Interview sagst du, du willst den ausbeutenden Kapitalismus überwinden. Tausende – vor allem junge – Menschen, die das auch wollen, waren 2017 in Hamburg, um gegen G20 zu demonstrieren. Wie würdest du diese Menschen davon überzeugen, dass Hamburgs damaliger Bürgermeister Olaf Scholz nun der richtige Kandidat ist?

Ich würde sagen: Die SPD ist die richtige Partei für junge Menschen, die den Kapitalismus überwinden wollen. Die daran glauben, dass es etwas Besseres gibt als das Bestehende. Als Jusos ist es unsere Aufgabe, die Inhalte überzeugend darzustellen. Zu zeigen: An diesen Stellen sind wir auf dem richtigen Weg.

Die SPD ist die richtige Partei für junge Menschen, die den Kapitalismus überwinden wollen.
Jessica Rosenthal

Wir kommen wieder dahin, dass Menschen, die jeden Tag arbeiten müssen, am Ende mehr profitieren –  und nicht diejenigen mit Vermögensanteilen oder Unternehmen. Natürlich werden wir bei der nächsten Bundestagswahl nicht den Kapitalismus und die damit verbundene Ausbeutung überwinden, aber wir müssen Schritte in diese Richtung gehen. Und das wird die SPD definitiv überzeugender machen als jedes Bündnis, welches mit der Union vorstellbar wäre.

Die SPD ist eine Partei, die Menschen zusammenbringen kann. Wenn wir als gesellschaftliche Linke Mehrheiten erkämpfen wollen, um dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen, um Vermögen umverteilen zu können, dann müssen wir schauen: Wie können wir das erreichen? Wie können wir die Bevölkerung überzeugen? All das wird ohne eine SPD nicht möglich sein.

Muss man Olaf Scholz die Fehler der Vergangenheit verzeihen, weil er jetzt der Kanzlerkandidat einer linkeren, progressiveren SPD ist? Zum Beispiel was die massive Polizeigewalt während G20 betrifft?

Wie gesagt, ich bin weder die Anwältin noch die Pressesprecherin von Olaf Scholz. Es geht mir auch nicht darum, dass man hinter Polizeigewalt, die in eklatanten Ausmaßen stattfand, einen Haken setzt. Das muss natürlich aufgearbeitet werden. Die Frage ist: Kann man die SPD bei der Bundestagswahl wählen?

Wir Jusos sagen: Ja, kann man. Wir kämpfen für unsere Inhalte, auch als Jungkandidat*innen, die in die Parlamente wollen. Da muss man als gesellschaftliche Linke differenziert drauf schauen. Wir können uns überlegen, ob wir uns die ganze Zeit zerstreiten und uns gegenseitig beweisen wollen, wer die reinere Lehre vertritt, oder ob wir sagen: Wir kämpfen für andere Mehrheiten in diesem Land, für ein progressives Bündnis ohne die Union, mit dem wir unsere Zukunft gestalten können. Ich bin für letzteres.

Die Selbstbeschäftigung muss dann aufhören, wenn wir weitreichend mehr Gerechtigkeit für die Menschen in unserem Land und darüber hinaus erreichen können. Und das können wir bei der nächsten Bundestagswahl.

Ist Olaf Scholz nicht eine Absage an ein progressives Bündnis?

Ich finde, wenn wir über diese Frage sprechen, müssen wir auch die Gegenfrage stellen: Was ist mit den Grünen? Für mich ist nicht klar, dass die für ein progressives Bündnis streiten und stehen. Aus meiner Sicht flirten die gerade stark mit der Union und bereiten sich auf andere Bündnisse vor.

Ich glaube, da müssen gerade junge Menschen ganz genau hingucken. Auf Bundesebene treten die Grünen gerne als Moralapostel auf, was oft auch wichtig und okay ist. Aber man muss sich anschauen, ob sie es schaffen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Insbesondere wenn man in die Regierungen schaut, an denen sie beteiligt sind – zum Beispiel in Hessen oder in Baden-Württemberg. Dort sind sie oft weit von ihren eigenen Ansprüchen entfernt.

Kannst du nachvollziehen, dass es vielen extrem schwer fällt, sich ein progressives Bündnis unter Olaf Scholz vorzustellen?

Ich kann mir ein solches Bündnis auf jeden Fall sehr gut vorstellen, weil wir Jusos mit der SPD für progressive Inhalte kämpfen werden. Wir wollen, dass die Veränderungen, die die Partei durchgemacht hat, nach außen getragen werden. Wir wollen, dass wir als Teampartei auftreten. Ich sehe keinen Wahlkampf, in dem Olaf Scholz alleine vorne steht, sondern auch jemand wie Kevin Kühnert. Diese Vielfalt muss sich im Wahlkampf abzeichnen.

Was wär deine Wunschkoalition?

Ich kann mir leider keine Mehrheiten backen. Aber natürlich will ich soviel SPD wie möglich – in einem progressiven, linken Bündnis.

Aus jungen aktivistischen Kreisen wird der Koalition aus Union und SPD vorgeworfen, dass sie es bislang nicht geschafft hat, die menschenunwürdigen Lebensbedingungen im Geflüchtetencamp Moria in Griechenland zu ändern. Wie schätzt du das ein?

Wir als Jusos sind enttäuscht davon, welche Entscheidungen die Bundesregierung dazu in der Vergangenheit getroffen hat. Für mich ist Moria ein Zeichen für das Versagen Europas. Dass die Union, insbesondere CSU-Innenminister Horst Seehofer, bei dieser Frage mal wieder blockiert, zeigt mir, dass wir die Union in die Opposition schicken müssen. Wir müssen mit anderen Mehrheiten an dieser Situation endlich etwas ändern. Und vor allem auch das Sterben im Mittelmeer beenden sowie eine vernünftige Migrationspolitik machen.

Sind die Zustände in Moria und das Sterben im Mittelmeer nicht auch ein Versagen der SPD? Immerhin sitzt die mit in der Regierung.

Als Jusos sind wir enttäuscht, wie weit die SPD sich von der Union in diesen Fragen lange hat treiben lassen. Uns wurde das von der Fraktion damit begründet, dass wir ein Einwanderungsgesetz bekommen haben. Diese Einführung sehe ich auch als Erfolg. Aber die Frage ist: Ist der Preis dafür okay gewesen? Das beantworten wir Jusos anders als die Partei.

Gleichzeitig waren es die SPD-Oberbürgermeister*innen, die das Bündnis Sichere Häfen gegründet haben und die Aufnahme von Geflüchteten insbesondere aus Moria immer wieder fordern. Das ist ein positives Signal. Leider ist es hauptsächlich Seehofer, der das blockiert.