Der 11. Oktober 2008 ist ein Tag, an den sich noch heute viele Österreicher*innen erinnern. Daran, was sie taten, als sie die Nachrichten über den tödlichen Unfall von Landeshauptmann Jörg Haider erreichte. An die folgenden Verschwörungstheorien und Skandale.

Der damalige Kärntner Landeshauptmann, 58, fuhr in seinem Dienstwagen von einer Party in einer Schwulenbar in Klagenfurt zu sich nach Hause in das Bärental. Bei einem Überholmanöver wenige Kilometer außerhalb der Stadt kam sein Wagen von der Straße ab und überschlug sich dreimal. Mit 142 Stundenkilometern und 1,8 Promille Alkohol im Blut. Haider starb sofort.

Mehr als zwei Jahrzehnte polarisierte der Politiker Österreich. Ab 1986 war er Vorsitzender der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und ab 1989 Landeshauptmann des österreichischen Bundeslands Kärnten. 2005 trennte er sich von der FPÖ, um seine eigene Partei zu gründen: das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ).

Jörg Haider war ein Populist, bevor man dieses Wort benutzte. Er war einer der ersten Politiker der Nachkriegszeit, der erkannte, dass er mit einem Kurs gegen Menschen mit Migrationshintergrund viele Stimmen gewinnen konnte und erfand den modernen Rechtspopulismus. Seine Politik war manchmal widersprüchlich, aber immer polarisierend. Seine Eltern waren überzeugte Nationalsozialist*innen und auch Haider kokettierte immer wieder mit dem Nationalsozialismus. Er polterte mit Sprüchen wie, dass die österreichische Nation "eine Mißgeburt" sei. Oder "Die FPÖ ist keine Nachfolgeorganisation der NSDAP. Denn wäre sie dies, hätte sie die absolute Mehrheit." 1991 sagte er: "Im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht, was nicht einmal Ihre Regierung in Wien zusammen bringt." Diese Aussage kostete ihn das Amt als Landeshauptmann.

Haider eckte an, wollte den Menschen aber gleichzeitig gefallen. Fast jede*r habe eine eigene Haider-Geschichte, heißt es in Kärnten. Der damalige FPÖ-Chef und Landeshauptmann mischte sich oft unter das Volk. Während Politiker*innen in den 1980er Jahren noch als unnahbar und elitär galten, besuchte Haider Veranstaltungen und Festen in Städten und Dörfern. Er sprach mit den Menschen, setze sich an Stammtische auf ein Bier und hörte zu – lange bevor das politischer Usus der Populist*innen wurde. In Gesprächen hielt Haider Blickkontakt, fragte nach, nickte verständnisvoll. Er galt als guter Zuhörer. Und als Chamäleon: Egal in welcher Runde Haider auftauchte – ob unter Rentner*innen, Professor*innen, Studierenden, Tagelöhner*innen –, er passte sich an. Und er kam damit gut an. War er bei der Universität Klagenfurt zu Gast, diskutierte er auf Augenhöhe und kannte ihre Probleme, bevor sie davon erzählten. War er bei einer Veranstaltung im Dorf, wetterte er hingegen plump gegen Menschen mit Migrationshintergrund, die mehr bekommen würden als die fleißigen Österreicher*innen. Jörg Haider war Meister der Brot und Spiele. Er verteilte Geldscheine an "seine Kärnter*innen", im wahrsten Sinne des Wortes. Immer wieder erfand er neue Projekte: Babygeld, Mütterpension, Billigtankstellen oder erhöhter Heizkostenzuschuss bar auf die Hand.

Ära Haider

Heute kann man erahnen, wie Haider so manche seiner Ideen finanziert haben mag. Als er in den Tod raste, war in Kärnten die Haftung für die Hypo Alpe Adria Bank im Umfang von 24 Milliarden Euro ausständig. Das ist zehnmal so viel, wie für das jährliche Landesbudget vorgesehen wäre. Bis heute gibt es – zum Teil ungeklärte – Geldflüsse aus Liechtenstein, von Muammar Gaddafi oder Saddam Hussein. Ebenfalls umstritten sind Haiders Finanzierungen der Eurofighter, der Bau des Wörthersee Stadions und der Klagenfurter Seebühne. Heute weiß man, dass allein das Hypo-Desaster den Staat Österreich 7,7 Milliarden Euro kostete. All die Korruptionsfälle und finanziellen Desaster waren nach Haiders Tod schwer zu ermitteln. Er wird in keinem der Fälle als Beschuldigter geführt, denn gegen Tote ermittelt die Justiz nicht. Sehr wohl gilt aber für Verstorbene die Unschuldsvermutung – ebenso für Haider. Allerdings mussten sich zahlreiche seiner politischen Wegbegleiter*innen verantworten und wurden schuldig gesprochen. In der Ära-Haider sei Kärnten zu einer Art Bankomat für

Korrupte verkommen, schrieb die österreichische Wochenzeitung Falter einmal.

Trotzdem verehren viele den ehemaligen Landeshauptmann zehn Jahre nach seinem Tod immer noch wie einen Popstar. Es gibt Haider-Fan-Clubs, -Foren und -Facebookgruppen. Jedes Jahr zu seinem Todestag tummeln sich viele an der Unfallstelle nahe Klagenfurt. So auch am Nachmittag vor seinem zehnten Todestag 2018.

Die Sonne strahlt. Es ist fast 20 Grad warm. Vor einer Haider-Pappfigur, Gedenkkränzen und -steinen stehen hunderte Grabkerzen mit Haiders Konterfei darauf. Ihre Lichter brennen. "Landesfürst Dr. Jörg Haider" und "Wahrheit für Jörg!" steht auf ihnen.

"Die Sonne ist vom Himmel gefallen"

Diese Wahrheit für Jörg suchen hier einige. Ein älteres Ehepaar, Ingrid und Robert, besucht die Gedenkstelle schon am frühen Nachmittag. Sie sind, um Haider zu gedenken, extra aus einem anderen österreichischen Bundesland angereist. Beide haben Haider mehrmals persönlich bei Veranstaltungen gesehen. Ingrid könne sich noch an den damaligen sogenannten Pensions-Hunderter, einen einmaligen Pensionszuschuss, von Haider erinnern. Auch den Todestag vor zehn Jahren haben die beiden noch in Gedanken vor sich. "Die Sonne ist an diesem Tag vom Himmel gefallen, das sagt man in Kärnten nicht ohne Grund", erklärt Robert und zeigt in den Himmel.

Ingrid ist überzeugt, dass Haiders Auto manipuliert wurde, oder dass er eingeschlafen ist. Schließlich hätte Haider nie getrunken. "Wäre er nicht gestorben, wäre er Bundeskanzler geworden. Und es gäbe nicht so viele Asylanten wie jetzt", meint Robert. Auch die Migrationsbewegung 2015 wäre nicht passiert und nur die "richtigen Asylanten" aufgenommen, schließlich hätte der Jörg ja ein gutes Herz gehabt.

Man hört viele Verschwörungstheorien, wenn man sich mit den Haider-Fans unterhält. Die Theorien reichen von Attentaten bis hin zu K.-o.-Trop­fen. Dass Haider einfach nur betrunken gefahren sei, glaubt an diesem Tag, an diesem Ort niemand. Auch nicht Helga. Sie glaubt, dass er umgebracht wurde. Von wem, das weiß sie nicht.

"Für meine Familie hat der Haider sehr viel getan." Helga erzählt von ihrer Tochter, die schwer krank war. Krebs. Sie konnte das Studium nicht fortsetzen, musste aber Studiengebühren bezahlen. Auch für die Kosten für ihre Behandlung musste größtenteils die Familie aufkommen. Der Vater war Alleinverdiener, die Familie konnte die Rechnungen nicht mehr decken. Sie wendeten sich wegen den Studiengebühren an das Finanzamt, niemand konnte helfen.

So suchte sie Haider bei einer Veranstaltung in Kärnten auf und sprach ihn an. Er fragte sie, ob sie Papiere habe. Sie reichte ihm einen Hefter. Er schob ihn unter sein Jackett und sagte, er werde sich melden. Eine Woche später rief das Finanzamt Helga an und ihrer Familie wurden die Studiengebühren zurückbezahlt. Sie habe keinen Cent von der FPÖ bekommen, aber das Geld vom Finanzamt, das ihnen zustand, betont sie. "So wie unser Fall war, gab es viele in Kärnten. Haider hat sich um die Menschen angenommen." Die Tochter hat ihr Studium abgeschlossen und ist heute Richterin.

So wie unser Fall war, gab es viele in Kärnten. Haider hat sich um die Menschen angenommen." – Helga

Peter war selbst Politiker in der FPÖ und arbeitete zusammen mit Jörg Haider. Peter folgte Haider auch in das BZÖ, als er sich von der FPÖ trennte. Mittlerweile hätten sich die FPÖ und das BZÖ aber wieder versöhnt. Um das zu symbolisieren, überreicht an diesem Abend Haiders Witwe, Claudia Haider, dem FPÖ-Vorsitzenden und Vizekanzler Heinz-Christian Strache auch die Jörg-Haider-Medaille.

Spricht man mit Peter über das Hypo-Desaster, betont er, dass der Fehler bei Haider, aber genauso bei vielen anderen gelegen hätten.

Europäischer Rechtspopulismus à la Haider?

Egal welche Verfehlung man anspricht, Kritik an Haider lässt hier niemand gelten. Wäre Jörg Haider noch am Leben, würde es Österreich heute besser gehen, weil er die Migration steuern könne, so die Logik. Auch wenn Haider nun seit zehn Jahren tot ist, lebt seine Politik. Und nicht nur in seinem Andenken, sondern auch in der aktuellen Regierung in Österreich. Auch in der sogenannten AfD in Deutschland. Im Front National in Frankreich. Oder in der Politik der Rechtspopulist*innen in Italien, den Niederlande, Polen oder Ungarn.

Natürlich wäre es weit überschätzt, Haider für all diese Strömungen als Initialzündung zu verstehen. Doch er war einer der ersten, der den modernen Rechtspopulismus beherrschte und den Menschen das Gefühl gab, ihnen zuzuhören.

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder warnte einmal, Haider dürfe kein "europäisches Problem" werden. Zehn Jahre nach seinem Tod, kann man nun mit Sicherheit sagen, dass er das wurde. Auch ohne ihn verbreitet sich der Rechtspopulismus in ganz Europa.

An der Gedenkstelle in Kärnten ist nun der österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache angekommen. Alle wollen seine Hand schütteln und sprechen ihm zu. Er macht Fotos. Mit Männern in Tracht. Mit Müttern und Babys. Jede*r darf ihn ansprechen. Von seinen Problemen erzählen. Er nickt. So wie Haider es getan hätte.