In Deutschland leben rund 200.000 jüdische Menschen, das ist nicht einmal ein Prozent der deutschen Bevölkerung. Für deutsche Christ*innen und Muslim*innen sind sie Freund*innen, Kolleg*innen, Nachbar*innen. Trotzdem prägen oft genug nicht ihre Erzählungen unser Bild von Jüd*innen, sondern der Religions- oder Geschichtsunterricht.

Zeit, das zu ändern. Wir haben vier junge Menschen gefragt, was es für sie bedeutet, jüdisch zu sein. Wie blicken sie auf Israel und das Leben in Deutschland? Was bedeutet ihnen ihre Religion – und haben sie Angst vor Antisemit*innen?

Angela Pape, 22, aufgewachsen in Berlin, studiert Psychologie in Gießen

Zuallererst definiere ich mich als Deutsche und dann als Jüdin. Ich glaube an Gott als eine höhere Macht, aber nicht unbedingt an alles, was in der Thora steht. Was ich am Judentum mag, ist vor allem die jüdische Philosophie, bei der es zum Beispiel darum geht, wie der Mensch gesehen wird. Das Judentum ist eine sehr hinterfragende Religion, allein zum Leben nach dem Tod gibt es die verschiedensten Ansichten. Wir haben eine sehr ausgeprägte Streitkultur und daran wachse ich.

Meine Freunde, die eine Kippa tragen, verstecken sie aus Angst unter einer Baseball-Cap.

Nach außen zeige ich es kaum, dass ich Jüdin bin, manchmal trage ich aber einen Davidstern um den Hals. Meine Freunde, die eine Kippa tragen, verstecken sie aus Angst unter einer Baseball-Cap.

In meiner Jugend kamen hin und wieder böse Kommentare bezüglich meiner Religion, heute ist der Antisemitismus nicht mehr so offensichtlich. Jetzt ist der Antizionismus der neue Antisemitismus. Ich merke oft, dass sich deutsche Nichtjuden von ihrer Schuld der Shoa befreien wollen, indem behauptet wird, wir machten mit den Palästinensern in Gaza das Gleiche wie damals die Deutschen mit den Juden. Dass Gaza ein Freiluft-KZ sei, habe ich gefühlt tausendmal zu hören bekommen. Auf der anderen Seite finde ich es schade, dass in meiner Generation die Schuldfrage immer noch viel Raum einnimmt. Der Holocaust schwebt immer über einem, habe ich das Gefühl. Erinnerung ist wichtig, ja, aber die Shoa allein macht nicht das Judentum aus.

Arthur Bondarev, 26, aufgewachsen in Düsseldorf, studiert Wirtschaftswissenschaften in Konstanz

Wie bei vielen anderen Juden in Deutschland sind auch meine Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion hierhergekommen. Weil Religion in diesem System verboten war, bin ich komplett unreligiös aufgewachsen. Trotzdem bin ich heute orthodoxer Jude. Orthodox zu sein ist eine Lebenseinstellung, von der jeder einzelne Teil meines Lebens beeinflusst wird. Das heißt, dass ich am Morgen zuerst einmal bete. Dann studiere ich außerdem jeden Tag den Talmud und am Shabbat halte ich mich zu 100 Prozent an die Gebote: Ich arbeite nicht und nutze auch keine Elektronik. Auch eine koschere Ernährung gehört für mich dazu.

Ich wünsche mir, dass wir Juden uns in der Öffentlichkeit mehr zu erkennen geben, um Vorurteile abzubauen.

Meine zukünftige Frau sollte Jüdin sein und meine Kinder würde ich gerne an einem Ort großziehen, an dem es eine große jüdische Gemeinde gibt. Israel schließe ich da nicht aus. Das Land ist genauso meine Heimat wie Deutschland.

Als orthodoxer Jude trage ich auch stets eine Kippa auf der Straße und stelle fest, dass die Leute dann oftmals nicht wissen, wie sie sich gegenüber einem Juden verhalten sollen. Daher wünsche ich mir, dass wir Juden uns in der Öffentlichkeit mehr zu erkennen geben, um Vorurteile abzubauen.

Wachsenden Antisemitismus kann ich in Deutschland aber jedenfalls nicht feststellen. Eher einen allgemeinen Anstieg von Diskriminierung gegenüber Minderheiten. Auch habe ich keine Angst durch die Migration aus muslimischen Ländern. Wäre das der Fall, würde ich damit nur Pegida und der AfD helfen.

Avital Grinberg, 21, aus Berlin, studiert dort Kunst- und Bildgeschichte

Das Judentum ist nicht nur eine Religion für mich, sondern ein wesentlicher Teil meiner Identität. Allein wenn Leute meinen israelischen Namen hören, werde ich jedes Mal damit konfrontiert, soll von mir erzählen. Als Jüdin bin ich automatisch gezwungen, mich mehr mit meiner Religion auseinanderzusetzen als zum Beispiel Christen, die Teil einer Mehrheitsgesellschaft sind. Wenn ich etwa sage, ich esse kein Schweinefleisch, weil das nicht koscher ist, muss ich den Leuten erklären können, warum das so ist. Aber das tue ich auch gerne. In Israel muss ich das allerdings nicht, weil ich da ein natürlicher Teil der Gesellschaft bin. In Deutschland habe ich eher das Gefühl, die ewige Jüdin zu sein.

Im Moment befasse ich mich viel mit der Rolle der Frau im Judentum. Das ist ein großer Konfliktpunkt für mich. Genau wie in den meisten anderen Religionen sind die Traditionen und Gesetze von Männern dominiert. Aber ich habe gelernt, dass man das, was von Jüdinnen verlangt wird, im historischen Kontext sehen muss. Vor 3000 Jahren mag es Sinn ergeben haben, sich nach der Periode reinzuwaschen. Bei den heutigen Hygienestandards verschiebt sich der Sinn eher zu einer spirituellen Reinigung.

In Deutschland habe ich eher das Gefühl, die ewige Jüdin zu sein.

Ich möchte noch viel über das Judentum lernen und mein Wissen dann auch an meine Kinder weitergeben. Schließlich habe ich hart dafür gearbeitet und – nachdem ich säkular aufgewachsen bin – mich ganz bewusst für meinen Glauben und meine Identität entschieden.

Laura Cazes, 28, aus Frankfurt, Koordinatorin des Deutsch-Israelischen Freiwilligendienstes

Ich bin nicht unbedingt religiös, aber sehr traditionsverbunden. Das kommt durch meine Sozialisation, die sehr jüdisch geprägt war. Ich ging auf eine jüdische Grundschule, war in jüdischen Freizeiten und arbeite heute für eine jüdische Organisation. Außerdem stehen die Zusammenkünfte mit meiner Familie meist in einem jüdischen Kontext: Sei es, dass wir am Freitagabend, dem Beginn des Shabbat, zusammenkommen oder an hohen Feiertagen gemeinsam essen, Kerzen anzünden und die Segenssprüche des jeweiligen Feiertags sprechen. In die Synagoge gehe ich nur an den hohen jüdischen Feiertagen, also etwa dreimal im Jahr.

Mein Freundeskreis ist sehr durchmischt. Ich habe sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Freunde, das war mir schon immer sehr wichtig. Mein Partner muss nicht jüdisch sein, aber mit jemandem zusammen sein, der mit meiner jüdischen Identität und dem, was ich mache, nichts anfangen kann, das würde nicht funktionieren.

Mein Partner muss nicht jüdisch sein, aber mit jemanden zusammen sein, der mit meiner Identität nichts anfangen kann, würde nicht funktionieren.

Dass ich Jüdin bin, sieht man mir nicht an. Insofern sind meine Erfahrungen mit Antisemitismus oder anderweitigen Anfeindungen eher gering. Wenn, dann kamen mal Fragen zu Israel oder es verbargen sich Stereotype und Verschwörungstheorien hinter Fragen, etwa, ob ich denn nicht glaubte, dass die Juden immer noch zu viel Macht hätten. Im Moment behaupten ja manche Politiker, dass mit der Zuwanderung aus muslimischen Ländern der Antisemitismus zunehme. In muslimischen Ländern gibt es definitiv antisemitische Strukturen, ja. Aber ich frage mich: Ist das etwas, das es in Deutschland nicht gibt? Ist das seit 1945 plötzlich nicht mehr da? Eine Sache ist ganz essenziell: Jede Pauschalisierung macht eine andere Pauschalisierung noch stabiler und damit auch die der Juden.