Im Norden Marokkos protestiert die Bevölkerung seit mehr als sieben Monaten gegen die Regierung und den marokkanischen König Mohamed VI.

Tausende Menschen gehen derzeit in Marokko auf die Straßen. Sie fordern Arbeit und Investitionen in die Region, in der sie leben. Sie fordern besser ausgestattete Schulen und eine Universität. Aber sie protestieren auch gegen Korruption und die Hogra, ein maghrebinisches Wort, das die gewalttätige Missachtung und Entwürdigung der Bürger*innen durch den Polizeistaat beschreibt – das ist Alltag in ganz Nordafrika.Die aktuellen Proteste starteten, nachdem der Tod eines Fischverkäufers kürzlich das Saubermann-Image des dort herrschenden Monarchen Mohamed VI versaute. Am 28. Oktober 2016 konfiszierte die Polizei die Ware des 31-jährigen Mohcine Fikri, da er den Fisch illegal gefangen hatte – und warf sie in den Müll. Fikri kletterte in den Müllwagen in der Hoffnung, einen Teil seiner Ware retten zu können. Dabei quetschte ihn die Müllpresse zu Tode.

Der Tod Fikris, der in voller Länge auf einem YouTube-Video festgehalten wurde, löste zu der Zeit Massenproteste in ganz Marokko aus. Überwiegend junge Menschen nahmen Teil. Sie teilen das Schicksal des 31-Jährigen: ohne Chancen auf Bildung oder einen gut bezahlten, festen Job, sich mit Aushilfs- oder Gelegenheitsjobs über Wasser haltend. Während die Proteste in anderen Regionen Marokkos abklangen, halten sie in der Heimatregion des Toten, dem Rif im Norden Marokkos, bis heute an.

Der Rif ist eine der vernachlässigsten Regionen Marokkos

Der Rif befindet sich direkt am Mittelmeer. Die Gegend ist überwiegend ländlich geprägt, eine der größeren Städte ist Al-Hoceïma mit 70.000 Einwohner*innen. Bis 1956 war die Region spanische Kolonie – im Gegensatz zum Rest Marokkos, der von Frankreich besetzt war. Im Rif leben überwiegend Imazighen, in der westlichen Hemisphäre oft auch Berber*innen genannt.

Nachdem die Unabhängigkeit erlangt wurde, kam es zu einem Aufstand der Rif-Bewohner*innen gegen die Regierung. Viele hatten das Gefühl, dass sie nun, nachdem sie zuerst von Spanien kolonialisiert wurden, von dem zuvor französisch besetzten Süden bevormundet wurden. Sie forderten sozio-ökonomische und politische Veränderungen: Statt Führungskräfte aus dem ehemals französisch besetzten Teil Marokkos vorgesetzt zu bekommen, wollten sie, dass die Positionen von lokale Eliten besetzt werden. Sie forderten niedrigere Steuern und mehr Mitbestimmungsrechte auf nationaler Ebene.

Der Protest wurde 1959 von der marokkanischen Armee niedergeschlagen. Im ganzen Land begannen die sogenannten années de plomb, die von staatlicher Gewalt samt Menschenrechtsverletzungen gegen Aktivist*innen und Dissident*innen geprägt waren. 

Der Rif ist seitdem eine der vernachlässigsten Gegenden Marokkos. Es fließt kaum Geld in Infrastruktur und Bildung, die Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Menschen ist hoch. Es gibt keine guten Schulen, keine Universitäten, nur wenige und schlecht ausgestattete Krankenhäuser. Die meisten Marokkaner*innen, die nach Europa auf der Suche nach einem besseren Leben übersetzen, stammen aus dem Rif.

Die Arabischen Revolutionen

Unter anderem gegen diese ökonomische Hoffnungslosigkeit richteten sich Proteste schon 2011. Jugendliche und Unzufriedene in ganz Marokko gingen zu Tausenden auf die Straßen und forderten Veränderungen und mehr politische Mitbestimmung. Doch während die Arabischen Revolutionen die ägyptische und tunesische Regierung stürzten, hielt sich der marokkanische König Mohamed VI trotz Proteste im Regentensattel.

Marokko gilt bei seinen westlichen Partnern als modern, fortschrittlich und als Garant für Stabilität in der Region. Seit Jahrzehnten nimmt die Regierung möglichem Protest durch Reformbereitschaft den Wind aus den Segeln. Doch auch wenn sich das Land als konstitutionelle Monarchie bezeichnet, also eine Monarchie mit Verfassung und Parlament, liegt die Macht im Land faktisch beim König.

Die aktuellen Proteste

Die aktuellen Proteste im Rif äußern sich zwar offen kritisch gegenüber dem Königshaus, fordern allerdings keinen generellen Systemumsturz. Vergangene Woche wurde einer der Anführer*innen der Proteste, Nasser Zafzafi, von der Polizei festgenommen. Medienberichten zufolge wirft die Staatsanwalt ihm vor, sich in einer Moschee ungehörig benommen zu haben. Er widersprach dort dem Imam, als dieser den Protestierenden in seiner Predigt vorwarf, Marokko spalten zu wollen. Außerdem soll er als Anführer der Proteste die nationale Sicherheit gefährdet haben.

Die Festnahme befeuerte die Proteste wieder. Mehrere Tage infolge gingen Tausende Menschen im Rif unter dem Motto Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit auf die Straße. Sie riefen "Wir sind alle Zefzafi" und "korrupter Staat". Seit der Verhaftung Zafzafis führt die 36-jährige Nawal Ben Aissa die Proteste in Al-Hoceïma an.

Mit offenem, blondem Haar spricht sie auf Kundgebungen zu den Menschen: "Sie können so viele Aktivisten verhaften, wie sie wollen, wir werden nicht aufgeben."