Besonders in Metropolen wird Wohnraum immer teurer; diese Zehn-Quadratmeter-Wohnung in Berlin kostet zum Beispiel wahnwitzige 599 Euro.

Das wirft die Frage auf: Warum sollte man sich täglich acht bis zehn Stunden abrackern und kostbare Lebenszeit opfern, nur um das Geld für ein Haus oder eine Wohnung aufzubringen, in der man sich eh nie aufhält, weil man so viel arbeiten muss, um das Geld aufzubringen...?

Es gibt Menschen, die aus diesem Kreislauf aussteigen – und stattdessen einfach in einen Van ziehen. Sie lagern ihren Besitz ein oder verkaufen ihn, legen sich entweder ein fertiges Wohnmobil zu oder bauen einen alten Transporter um und begeben sich auf den Roadtrip ihres Lebens. Manche zeitweise, andere unbegrenzt.

Was während der Finanz- und Immobilienkrise 2008 vor allem als Not- oder Zwischenlösung diente, ist mittlerweile zu einer globalen Bewegung angewachsen. Vor allem junge Leute – Singles, Pärchen und sogar kleine Familien – entscheiden sich aus guten Gründen für ein Leben im Wohnmobil oder Van.

So schreibt die amerikanische Fotografin Melony Candea auf ihrem Blog "Westfaliadigitalnomads" über die Entscheidungsfindung mit ihrem italienischen Partner Armando: "Wir wollten einfach nur gemeinsam reisen, ohne Nerverei (...) Der Van ist die perfekte Lösung. Wir können zusammen sein, haben einen Platz zum Schlafen und für unsere Sachen und sind unabhängig von anderen Transportmitteln. Darüber mussten wir nicht groß nachdenken." Seitdem wohnen die zwei in einem Volkswagen Westfalia namens Mork:

Vagabunden, Diebe, Schnorrer?

Das Vanlife ist gesellschaftlich allerdings umstritten bis stigmatisiert, oft werden Melony und Armando für Obdachlose gehalten und mit Vorurteilen konfrontiert: Sei seien zu faul zum Arbeiten, Schnorrer, Diebe oder im Dauer-Urlaub. Dabei, so schreibt Melony, würden sie inzwischen härter arbeiten als vorher, seien dabei aber motivierter und hätten eben auch die Freiheit, zu reisen, wann und wohin sie wollten.

"Ja, wir leben in einem Van. Ja, wir sind auf eine Art Nomaden. Aber nein, wir sind nicht obdachlos." – Melony Candea

Besonders geeignet ist dieser Lebensstil logischerweise für Menschen, die ortsunabhängig arbeiten können – zum Beispiel Musiker*innen, Journalist*innen, Autor*innen, Fotograf*innen, Webdesigner*innen, Programmierer*innen, Yoga-Trainer*innen, Surf- oder Sprachlehrer*innen – und für jede*n, der*dem Freiheit wichtiger ist als ein gesellschaftskonformes Leben.

Darum ist das Vanlife so attraktiv:

  • Man muss sich auf Wesentliches beschränken, minimalistischer und bewusster leben und konsumieren.
  • Durch weniger Verpflichtungen lebt man freier, authentischer und spürt höhere Selbstbestimmung und Lebensqualität.
  • Man ist in der Natur, lebt stärker in Einklang mit der Umwelt.
  • Flexibilität und Mobilität sorgen nicht nur für gefühlte, sondern für tatsächliche Freiheit – Sonnenaufgang in den Bergen, Sonnenuntergang am Meer.
  • Man entdeckt ständig neue spannende Orte, trifft immer andere inspirierende Menschen.
  • Man zahlt Benzin statt Miete.

Auf Youtube und Instagram finden sich unter den Hashtags #vanlife #vandwelling #homeiswhereyouparkit #homeonwheels oder #boondocking etliche Videos und Fotos, die Freiheit und Abenteuer versprechen und damit selbst in jeder abgeklärten Seele sofort die Sehnsucht wecken.

Aufwachen in den Bergen:

Oder halt am Meer:

Freiheit, Freiheit!

Niemand braucht Netflix, wenn das Abendprogramm SO aussieht:

Oder eben so:

Der denkbar schönste Platz zum Kaffee trinken:

Doch wer länger in einem Wohnmobil lebt, kennt auch die Nachteile:

  • Wer nicht auf Campingplätzen unterkommen und dafür bezahlen kann oder will, muss jeden Abend aufs Neue einen Platz zum Schlafen finden.
  • Auf öffentlichen Parkplätzen oder in Wohngebieten kontrolliert oft die Polizei.
  • Der Van muss – je nach Alter und Modell – häufig repariert werden; das kann extrem teuer und unangenehm werden.
  • Selbstverständlichkeiten des Alltags – zum Beispiel duschen – sind deutlich aufwändiger.
  • Man pflegt weniger feste Bindungen und kann sich unter Umständen irgendwann isoliert fühlen.
  • Die feste Postadresse fehlt und man muss Familie, Freunde oder Bekannte um Hilfe bitten.
  • Man wird gelegentlich mit Vorurteilen konfrontiert.
  • Wenn das Wetter schlecht ist, kann es im Van äußerst eng und muffig werden.

So ging's auch den Hochzeitsfotografen Simon und Shelby aus Ottawa:

Also eben nicht alles immer nur Abenteuer und Glückseligkeit. Aber wenigstens ist der Ausblick oft genug atemberaubend und unbezahlbar. Doch ist es das wert?

"Heimat ist, wo das Herz ist – in unserem Fall ist das unser Westy Mork", schreibt Melony Candea.

Letztlich muss muss es sich jede*r gründlich überlegen, alle Pros und Contras abwägen und für sich entscheiden, ob und wie viel er*sie Sicherheit und Komfort oder Freiheit und Unbequemlichkeit zum Leben braucht beziehungsweise ertragen kann.

Und das ist übrigens keine Frage des Alters. Die an Krebs erkrankte 91-jährige Norma Jean Bauerschmidt wollte die letzte Zeit ihres Lebens nicht mit Chemotherapie und Operationen im Krankenhaus verbringen, sondern lieber mit ihrem Pudel Ringo, ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter im Wohnmobil durch die USA reisen. Sie entschied sich für das Abenteuer:

"Ich bin inzwischen offener als ich es früher war", freute sich Norma laut Pittsburgh Post-Gazette noch im Juni über ihre Entscheidung. Und ihr Sohn antwortete: "Du bist nicht derselbe Mensch, Mama! Du lebst dein Leben!"

Miss Norma erhielt in den letzten Wochen Palliativ-Pflege und starb am 30. September glücklich, erfüllt und friedlich in ihrem Bett im Van.