Dem Vorsitzenden der Jusos wird nach einem Interview mit der ZEIT vorgeworfen, die DDR wieder einführen zu wollen. Dabei scheint er derjenige zu sein, der nicht vergessen hat, was im SPD-Grundsatzprogramm steht. Ein Kommentar

"Was heißt Sozialismus für Sie, Kevin Kühnert?", lautet die Überschrift eines Interviews in der aktuellen Ausgabe der ZEIT. Der 29 Jahre alte Juso-Vorsitzende und selbsterklärte Sozialist Kevin Kühnert erklärt darin, wie eine sozialistische Zukunft seiner Meinung nach aussehen könnte. Dabei antwortet er auf die Frage, ob BMW in einer sozialistischen Gesellschaft kollektiviert werden sollte: "Die Verteilung der Profite muss demokratisch kontrolliert werden. Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebs gibt."

Die konservativ-liberale Blase explodierte daraufhin vor Wut angesichts solch radikal anmutender Thesen. Der Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sagte beispielsweise: "Das ist ein verschrobenes Retro-Weltbild eines Fantasten, der irgendwie mit dem System hier nicht zufrieden ist. Wenn du so einen in der Partei hast, kannst du eigentlich zusperren." Sogar aus der eigenen Partei kam Kritik: Der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs nannte Kühnerts Verhalten "unsolidarisch" – schließlich befände sich die Partei in einem wichtigen Wahlkampf, am 26. Mai findet die Europawahl statt.

Kein Wort verliert Johannes Kahrs hingegen darüber, dass beispielsweise Stefan Quandt und Susanne Klatten BMW-Großaktionär*innen sind und allein im Jahr 2018 mehr als eine Milliarde Euro verdient haben. Wohlgemerkt: Nicht durch produktive Arbeit, sondern dadurch, dass sie Vermögen besitzen. Stefan Reinecke schreibt in der taz: "Die Leistung der beiden besteht darin, die richtigen Eltern gehabt zu haben. Deswegen haben die beiden Großaktionäre bei BMW 2018 in jeder halben Stunde mehr verdient als ein Polizist in einem Jahr." SPD-Abgeordnete, die lieber auf Juso-Vorsitzende einprügeln, statt solche Ungerechtigkeiten zu benennen, spüren das S in SPD nicht mehr.

Die SPD ist zu einer PD verkommen, einer Partei Deutschlands, über deren sonstigen Inhalt sich niemand mehr so richtig sicher ist.
Tessa Högele

Die alte SPD-Garde bangt um die letzten verbliebenen Wähler*innenstimmchen. Aus Angst, auch diese noch zu verlieren, passiert hauptsächlich: nichts. Zumindest nichts, bei dem man sich hinterher denkt: Wow, das war jetzt eine große Errungenschaft im Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit. Die SPD ist insbesondere als Koalitionspartnerin der Union zu einer Hüterin des Status quo geworden. Die SPD ist zu einer PD verkommen, einer Partei Deutschlands, über deren sonstigen Inhalt sich niemand mehr so richtig sicher ist.

Der Chef der Jungsozialist*innen vertritt sozialistische Thesen – wer hätte das auch ahnen können

Die Jusos und Kevin Kühnert wirken wie die einzigen Genoss*innen, die noch wissen, für was das S in SPD eigentlich steht. Nämlich für Sozialdemokratisch. Die Sozialdemokratie ist eine sozialistische Bewegung, die davon überzeugt ist, durch demokratische Reformen zu dem Ziel von mehr Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu gelangen – anders als beispielsweise die radikale Linke, die glaubt, nur durch eine Revolution an dieses Ziel zu gelangen.

Das steht übrigens bis heute so im SPD-Grundsatzprogramm: "Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist." Einem SPD-Politiker Sozialismus vorzuwerfen, ist also ungefähr so widersinnig, wie einem CDU-Politiker Konservatismus.

Es geht bei der Sozialdemokratie um Bewegung. Man möchte sich schrittweise in Richtung einer sozial gerechten Gesellschaft bewegen. Der regierende SPD-Kader tänzelt maximal in winzigen Minischritten in diese Richtung. Kühnert möchte diese Schritte vergrößern – und das ist in Zeiten, in denen die soziale Ungleichheit wächst, auch bitter nötig.

Das Thema Wohnen wird in letzter Zeit besonders stark diskutiert. Die Mietsteigerungen der vergangenen Jahre haben laut einer Studie die Ungleichheit in Deutschland verstärkt. "Die Miete macht über eine Million Haushalte in Großstädten so arm, dass ihr Einkommen nach Miete unter dem Regelsatz von Hartz IV liegt", liest man in einem Kurzgutachten für den Sozialverband Deutschland (SoVD). Und die Mieten steigen weiter an – obwohl die SPD sowohl auf Bundesebene als auch in den meisten Großstädten (mit)regiert.

Alle bisher verabschiedeten Instrumente wie die Mietpreisbremse reichten bislang nicht aus, um den Trend zu stoppen. Die Mieten steigen. Wohnraum ist knapp. Geringverdienende werden aus ihren Kiezen und in die Peripherie verdrängt. Viele Betroffene nehmen diese Entwicklung als existenzbedrohend wahr.

Inzwischen sind es häufig die Bürger*innen, von denen radikale und neuartige Lösungsideen ausgehen. In Berlin sammelt die Initiative Deutsche Wohnen & Coenteignen, die die Vergesellschaftungen des Besitzes von Immobilienfirmen mit mehr als 3.000 Wohnungen fordert, Unterschriften für ein Volksbegehren. Sie fordern, den Paragrafen 15 des Grundgesetzes anzuwenden, der ebensolche Vergesellschaftungen im Namen des Gemeinwohls vorsieht, bislang jedoch noch nie angewandt wurde. Die Berliner SPD hat sich bislang um die Entscheidung herum gedrückt, sich offiziell zu dem Volksbegehren zu positionieren.

Einmal Mut für alle, bitte

Es wird Zeit, dass die SPD wieder mehr Mut entwickelt. Mut, große gesellschaftliche Veränderungen anzupacken. Mut, radikale Probleme radikal zu bekämpfen. Die wichtigste Stelle in dem Interview ist diejenige, an der Kühnert aus Versehen die Sozialdemokratie erklärt: "Ich versuche damit klarzumachen, dass sich alles in Schritten vollzieht. Fortschritte aus dem bisherigen System werden mitgenommen, und das, was uns hindert, ein gutes Leben zu führen, wird überwunden."

Bewegung nach vorne. Diesem Grundsatz sollte sich die ganze SPD wieder mehr verschreiben, statt schulterzuckend darauf zu verweisen, dass große Reformen aufgrund des aktuellen Koalitionspartners nicht möglich seien. Das bedeutet nicht, dass die SPD direkt die Kollektivierung der Autobranche fordern soll. Es würde aber nicht schaden, sich offen für radikal anmutende oder neuartige Problemlösungsansätze zu zeigen – insbesondere, wenn das Altbewährte an seine Grenzen stößt.