Achtung, dieser Text enthält Spoiler!

Wie weit würdest du gehen? Was würdest du riskieren für deine Ideale? Für unsere Zukunft? Diesen Fragen stellt die neue Netflix-Serie Wir sind die Welle und knüpft sie an aktuelle Themen. Umweltverschmutzung, Klimawandel, Gentrifizierung, Waffenexporte und wachsender Rechtsextremismus – alles, was zurzeit die tägliche Medienberichterstattung bestimmt, findet sich in der Story der Dramaserie wieder.

Angelehnt an das Sozialexperiment The Third Wave und das darauf basierende Buch Die Welle zeigt die sechsteilige Netflix-Produktion, wie Bewegungen entstehen und sich Gruppendynamiken verändern können. Zum Guten wie zum Schlechten.

Eine Geschichte, die viele Schüler*innen bereits kennen

1967 führte der Geschichtslehrer Ron Jones mit den Schüler*innen der Cubberley High School in Palo Alto (Kalifornien) ein Experiment durch. Seine Schüler*innen wollten nicht glauben, dass die Verbrechen der NS-Zeit möglich gewesen waren, ohne dass ein Großteil der zivilen Bevölkerung etwas von den Taten der Nationalsozialist*innen gewusst hätte. Jones wollte ihnen zeigen, wie einfach absolutistische faschistoide Strukturen entstehen können.

Durch Disziplin und Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und einen exklusiven Gruß beeinflusste Ron Jones seine Schüler*innen soweit, dass sie innerhalb von fünf Tagen glühende Anhänger*innen der imaginären Bewegung The Third Wave wurden. Nachdem sie anfingen, sich gegenseitig zu denunzieren und Leute, die kein Teil der Welle sein wollten, anzuprangern, brach Jones das Experiment ab – mit den Worten: "Wir hätten sicher alle gute Nazideutsche abgegeben."

Der Autor Morton Rhue schrieb ein Buch auf Basis dieser Ereignisse. 1984 erschien die deutsche Übersetzung und dient bis heute als Schullektüre. 2008 erschien die Verfilmung des Klassikers in deutschsprachigen Kinos, mit Jürgen Vogel in der Rolle des Lehrers.

In Jogginghose und mit Plastiktüte für den Weltfrieden

Die sechsteilige Serie Wir sind die Welle, die seit 1. November auf Netflix läuft, löst sich in weiten Teilen vom Originalstoff. Der Name der Bewegung ist gleich – auch ein Symbol, das überall angesprüht wird, gibt es. Zudem eine Gruppe, bei der interne Unstimmigkeiten eine gefährliche Eigendynamik auslösen. Davon abgesehen haben die Serienmacher*innen die Handlung neuinterpretiert und ins Jahr 2019 geholt. Statt reaktionärer Nazi-Ideologien verfolgen die Protagonist*innen hier eine Vision, die sich gegen gesellschaftliche Missstände richtet.

An die Stelle des Lehrers tritt in der Netflix-Serie ein rebellischer Teenager: Tristan (Ludwig Simon) kommt neu an das humanistische Gymnasium der fiktiven Kleinstadt Meppersfeld. In Jogginghose und mit Plastiktüte als Schultasche tritt er auf; dass er der Sohn eines Botschafters ist, sieht man ihm nicht an. Auch sonst fällt er in dem Klassengefüge, das mit seinen beliebten Mädchen, nerdigen Außenseitern und coolen Skaterjungs arg klischeehaft dargestellt wird, auf: Er ist nicht nur intelligent, spielt Klavier und spricht sogar Arabisch – er hat vor allem eine kritische Sicht auf die Welt. Und die teilt er mit seinen Mitschüler*innen, zumindest einem Teil von ihnen.

Wir werden die Welt nicht ändern, indem wir uns an die Regeln halten.
Lea

Binnen kürzester Zeit schart sich um Tristan eine Gruppe von Jugendlichen, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnten. Da sind Lea (Luise Befort), ein privilegiertes Mädchen, deren Alltag aus Tennisspielen und teuren Klamotten besteht; Zazie (Michelle Barthel), die von ihren Mitschüler*innen gemobbt wird; Hagen (Daniel Friedl), Sohn von Landwirt*innen, deren Lebensgrundlage durch das Abwasser einer nahegelegenen Fabrik zerstört wurde, und Rahim (Mohamed Issa), dessen Familie von einem Immobilienkonzern aus ihrer Wohnung vertrieben wird. Sie alle lassen sich bereitwillig von Tristans revolutionären Gedanken leiten, um gemeinsam ihre Welt zu verändern.

"Wir werden die Welt nicht ändern, indem wir uns an die Regeln halten", prophezeit Leas Stimme aus dem Off schon in der ersten Folge und verrät damit, wohin sich die Handlung entwickelt. In schnellen, manchmal zu schnellen sechs Episoden läuft Tristans Bewegung aus dem Ruder. Die guten Taten, die gefilmt und zur gewollten Nachahmung ins Netz gestellt werden, gewinnen an Radikalität. Plötzlich plant die Gruppe Attacken, die nichts mehr mit friedlichem Protest à la Fridays for Future zu tun haben.

RAF trifft Fridays for Future

Wir sind die Welle wirkt, als sei es Netflix' Antwort auf globale soziale Bewegung wie FFF und Extinction Rebellion. Doch die Dreharbeiten seien schon abgeschlossen gewesen, als die Umweltschutzbewegungen aufkamen, sagte der Produzent der Serie Dennis Gansel in einem Interview. Um Themen für die Serie zu finden, welche die Jugendlichen bewegen, sei er mit seinem Team an Schulen gegangen und hätte nachgefragt.

Das Ergebnis der Umfragen findet sich in den Aktionen der Jugend-Guerilla wieder: Die Welle geht gegen Massentierhaltung, Plastikverbrauch und dicke Karren ebenso vor wie gegen den Aufschwung der rechtspopulistischen Partei NfD, die mit ihrem Logo auf blauem Grund klar auf die AfD verweist.

Wir stellen alles in Frage, weil es höchste Zeit dafür ist. Und wenn wir euch damit Angst machen, umso besser. Ihr hattet alle genug Zeit und habt sie verschwendet.

Am Anfang kann man sich als Zuschauer*in noch gut mit dem Engagement identifizieren. Ab einem gewissen Punkt machen die Taten der Gruppe aber Angst.  Hier steckt keine akribische Planung, wie etwa bei Protestaktionen von Ende Gelände, dahinter. Was als ziviler Ungehorsam beginnt, endet in Straftaten. Da fliegt dann ein Molotowcocktail als Liebesbeweis und der faschistische Politiker wird mit Gift mundtot gemacht.

Und so ist man als Zuschauer*in froh, dass zumindest ein Teil der Welle begreift, wie wenig zielführend die Radikalität ist und stattdessen auf den friedlichen Protest der Masse vertraut. Dadurch gewinnt die Handlung nicht nur an Tiefe, Wir sind die Welle erhält dadurch auch das Potenzial, den heutigen Schulunterricht zu bereichern.

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