Großstädter*innen sind verwöhnt – jedenfalls, was ihre kulinarischen Gelüste anbelangt. Wenn ihnen etwa im Winter um 21 Uhr noch nach einer Ananas ist, gehen sie einfach in den Supermarkt und kaufen eine. Kein Problem. Genauso verhält es sich mit Tomaten. Egal zu welcher Jahreszeit liegen sie zu Pyramiden gestapelt im Gemüseregal.

Das geht allerdings auf Kosten ihres Aromas, wissen nicht nur Wissenschaftler*innen, sondern auch geschmacksbewusste Kund*innen. Denn die nicht-saisonale Tomate schmeckt in der Regel nach nur einer Sache: nichts. Wenn es in Deutschland fröstelt und schneit, werden die roten Gemüsepflanzen zuhauf aus den Niederlanden, Spanien und Frankreich importiert, wo sie in der Regel in Gewächshäusern gezüchtet werden. Das kostet eine Menge Energie, Wasser – und Aromen.

Wollen wir das in Kauf nehmen?

Im europäischen Raum ist die Tomate übrigens erst seit dem 19. Jahrhundert kulinarisch relevant. Heute isst jede*r Deutsche durchschnittlich 26 Kilogramm davon im Jahr. Und das, obwohl Christoph Kolumbus bereits im 15. Jahrhundert die ersten Tomatenfrüchte nach Europa brachte. Die hat allerdings nicht mehr viel mit der modernen Discounterware zu tun.

Dafür hat das Gemüse nach Jahrzehnte langer Züchtung heute andere Talente: schön rot glänzen sowie in verschiedenen Größen länger haltbar und über das ganze Jahr verfügbar sein. Die Frage ist nur: Möchten wir das in Kauf nehmen?

US-amerikanische Wissenschaftler*innen haben sich zur Aufgabe gemacht, den langen Züchtungsweg der Tomate zurückzuverfolgen, um herauszufinden, ob er rückgängig gemacht werden und somit die Tomate zukünftig wieder so wie ihre Vorfahren schmecken könnte. Das Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichte kürzlich ihre Studie.

Um die Entwicklung der Tomate nachzuvollziehen, untersuchten der US-Genforscher Harry Klee und seine Kolleg*innen alte, wilde, kommerzielle sowie gemischte Tomatensorten und identifizierten aus diesen 398 Gene, die der Tomate ihren Geschmack geben. Dann wählten sie 101 Sorten aus und ließen sie von einer Gruppe verkosten und bewerten.

Immer weniger aromatische Stoffe in Tomaten

Daraufhin verglich das Team der Wissenschaftler*innen die Bewertungen mit der genetischen Zusammensetzung der Tomate und führte Präferenzen der Tester*innen auf bestimmte Genome zurück. Aus den Bewertungen konnte das Team schließen, welche der Gene für den Genuss der Tomate am wichtigsten sind. Das Ergebnis: Die modernen Tomaten enthielten im Vergleich zu den anderen Sorten auffallend wenige dieser Aromen, schreibt das Online-Magazin Smithsonian in einem ausführlichen Bericht.

Das Experiment führte zu einer weiteren Erkenntnis: Das Geschmackserlebnis der Tomate ist unglaublich komplex und vielschichtig. "Die Tomate ist anders als herkömmliche Früchte wie Bananen oder Erdbeeren, wo man gerade einmal einen geschmacksgebenden Stoff braucht, um zu erkennen: 'Ah, das ist eine Banane'", sagt Klee von der University of Florida. "Es gibt mindestens 25 verschiedene Aromakomponenten, die sogenannten flüchtigen Chemikalien, die alle zum Geschmack einer Tomate beitragen."

Die Tomate ist anders als herkömmliche Früchte." – Wissenschaftler Harry Klee

Erst die Zusammenarbeit von Nase und Zunge ermöglicht es uns, den vollen Tomatengeschmack wahrzunehmen. Der Geschmack ergibt sich durch eine komplexe Schichtung von Chemikalien wie Säuren und Zucker, die wechselnde Rezeptoren reizen. Dazu kommen flüchtige chemische Verbindungen, die unsere Geruchsnerven anregen. Genau diese Komplexität, welche Voraussetzung für den einzigartigen Tomatengenuss ist, verantwortet die Misere. Denn fehlt nur eine Komponente, kommt der vollkommene Geschmack nicht oder eben nur verändert zustande. "13 der 25 flüchtigen Chemikalien sind in den modernen Sorten deutlich reduziert", sagt Klee. Der Geschmack würde dadurch immer dünner und wässriger.

Aufgrund dieser Experimente konnten die Forscher*innen die Entwicklung der Tomate im Detail nachvollziehen: Sie wurde immer größer und weniger süß. Je größer die Tomate gezüchtet wurde, desto weniger geschmacksgebende Süße und mehr Wasser beinhaltete sie. Seit ihrer Domestizierung hat sich die Tomate durch moderne Zuchttechniken um das 1000-fache vergrößert. Na, guten Appetit.

Was können wir tun?

Und wie geht es jetzt weiter? Können wir der Tomate nicht einfach wieder mehr Süße durch bestimmte Gene einpflanzen?

Theoretisch wäre das sogar annähernd möglich, sagt Klee. Allerdings zwängen die nötigen Maßnahmen die Landwirtschaft dazu, die Produktion radikal umzustellen – und einige Kosten in Kauf zu nehmen. Klee vermutet, dass Landwirt*innen ihre Ernte um 90 Prozent reduzieren müssten. Aber daran hat in der Lebensmittelindustrie natürlich niemand Interesse. Da geht es weniger um die Qualität der Tomate, als um die Masse und den Profit, der dadurch geschlagen werden kann. Die einheitlich groß gezüchteten Tomaten sind effizienter: Sie sind simpler zu pflücken, zu transportieren und kosten dadurch weniger.

Die Kundschaft spielt bei der Tomaten-Misere natürlich auch eine bedeutende Rolle. Sie müsste sich darauf einstellen, mehr Geld für Tomaten auszugeben und sie nur zur Saison von August bis Oktober frisch genießen zu können. Im Winter kann der*die Pasta- und Pizza-Liebhaber*in dann allerdings auf eingekochte Ware wie Tomatenpulpa zurückgreifen.

Markt versus Qualität

Gleich den ganzen Markt unzustülpen und die Konsument*innen umzuerziehen, um den ursprünglichen Tomatengeschmack wiederzugewinnen, scheint gar unmöglich zu sein. Im Kleinen lässt sich allerdings gut ansetzen: Über ihr Experiment hinaus initiierten Klee und sein Forschungsteam ein interaktives Tomatenschutz-Projekt an der University of Florida. In einem Kleingarten pflanzen sie alte Tomatensorten an, deren Saatgut gegen eine Spende erhältlich ist. Die Spender*innen sollen die alten Sorten dann im eigenen Garten ziehen, für das Projekt dokumentieren und natürlich die einzigartigen Früchte verkosten dürfen.

Ähnliche Projekte gibt es auch in Deutschland: Zahlreiche kleine Betriebe setzen sich für seltene Tomatensorten ein und rufen zum bewussten Konsum seltener Sorten auf. Der Verein Tomatenretter e. V. ist einer davon: Auf ihrem Hof in Hamburg pflanzt das Team von zehn Menschen alte Gemüse- und Tomatensorten mithilfe eines Förderkreises aus rund 100 Unterstützenden an. Die Förder*innen bekommen das Saatgut in Form von drei Kilogramm Früchten verschiedener samenfester Tomatensorten und können sich überdies am Saatgutarchiv des Hofes bedienen.

Auch Harry Klee bleibt optimistisch, dazu müsse man sich nur die Entwicklung der Craft Beer-Szene oder des Kaffees über die letzten Jahrzehnte hinweg anschauen, sagt Klee. Immerhin existieren auch eine Menge kleinbäuerliche Betriebe, die nicht nach den Marktregeln spielen, sondern auf Qualität setzen. Es bleibt also noch ein Stück Hoffnung am Tomaten-Himmel.