Radikale Gläubige, Ärzt*innen oder auch Therapeut*innen versuchen mit pseudowissenschaftlichen Methoden homosexuelle Menschen hetero zu machen. Demnach sei Homosexualität eine Krankheit, eine psychische Störung, die behandelbar ist. Gesundheitsminister Jens Spahn will diese Konversionstherapien in Deutschland jetzt verbieten lassen. Denn die Betroffenen erleiden dabei häufig ein seelisches Trauma. Wie es tatsächlich ist, so etwas zu durchleben, erzählt Wladimir, der mit 19 Jahren in einer christlichen Sekte von seinen angeblichen bösen Geistern befreit werden sollte und noch heute mit den Auswirkungen zu kämpfen hat.

ze.tt: Wladimir, was war deine Lebenssituation vor der Therapie?

Wladimir: Wir sind teils russisch-orthodox, teils evangelisch erzogen worden. Ich wusste, dass eine homosexuelle Beziehung da nicht reinpasst und habe meinen Partner als meinen besten Freund vorgestellt. Doch meiner Familie war irgendwann klar, dass da mehr lief. Sie wollte es nicht wahrhaben. Am 15. April 2014, ich krieg das Datum nicht aus dem Kopf, kam mein großer Bruder hoch, als mein Freund und ich auf dem Dachboden waren. Er sagte extra auf Russisch zu mir, dass ich mit ihm reden soll, von Papa würde ich noch richtig Schläge kriegen. Und dann war mir klar, dass es raus ist.

Ich sagte meinem Freund, dass er unsere Sachen packen und an der nächsten Bushaltestelle auf mich warten soll. Mein anderer großer Bruder riet mir, dass ich abhauen sollte, am besten weg aus Deutschland, weil es für mich die Hölle sein wird, wenn sie mich finden. Ich bin dann zu meiner besten Freundin, habe da eine Zeitlang gewohnt, weil ich da auch schon bei den Eltern geoutet war. Die haben mir erlaubt, dass ich da so lange bleiben kann, wie es nötig ist.

Wie hat deine Familie auf deine Flucht reagiert? Haben sie nach dir gesucht?

Meine Mutter hat direkt versucht, mich zu erreichen und mir zu sagen, dass sie den Kontakt zu mir halten will. Und dass sie auf keinen Fall der Meinung meines Vaters ist und mich nicht verlieren möchte. Zwei Wochen nach der Flucht wurde mir gesagt, dass mein Vater mit mir reden möchte. Ich hatte höllische Angst, aber ich wusste, dass ich das Gespräch mit ihm führen muss. Jeder hat mir davon abgeraten. Ich habe dann meine beste Freundin und ihren Freund mitgenommen, damit sie im Notfall die Polizei rufen können.

Bei dem Treffen fragte er mich, ob ich mich immer noch dafür entschieden hätte, diesen abnormalen Weg zu gehen. Ich erklärte ihm, dass es keine Entscheidung war, sondern dass ich einfach so bin. Darauf hatte er nichts mehr zu sagen. Außer, dass er es am liebsten hätte, wenn ich aus Köln abhaue. Denn er wüsste nicht, was er machen würde, wenn er mich auf der Straße sieht. Als ich später einmal heimlich meine Mutter bei uns zu Hause getroffen hatte, waren an jeder einzelnen Tür Kreuze aufgehängt. Sie sollten das Haus segnen und von meinem bösen Geist befreien. Der Priester aus unserer russisch-orthodoxen Kirche ist extra gekommen, um das Haus zu weihen, weil sie glaubten, dass ein Dämon dort wohnt.

Wer aus deiner Familie wollte, dass du mit einem Priester sprichst?

Meine Mutter. Es gab immer wieder Andeutungen von ihr. Am Telefon fragte sie mich, ob ich nicht mal mit einem Priester sprechen wollte. Überrascht hat mich das aber nicht. Ich wusste, noch bevor ich mich geoutet habe, wie meine Familie reagieren würde: Meine Brüder würden mich verprügeln wollen, mein Vater mich umbringen und meine Mutter würde mich eben zum Priester schicken.

Und hast du gewusst, was das für dich bedeutet?

Bei meiner Mutter habe ich es mir einfach gedacht. Ihre Familie in Dortmund ist sehr gläubig und bei jedem Besuch dort wurde mir suggeriert, was für ein Sünder ich sei. Und da wussten sie noch nicht mal, dass ich schwul bin. Sie fanden einfach nur, dass ich zu weltlich sei. Als guter Sohn musste ich ein guter Christ sein. Ich redete mir dort auch immer ein, dass ich nicht homosexuell bin.

Mein Großcousin gab mir ein Buch, es heißt Ist Veränderung möglich? Ein Bericht eines ehemaligen Homosexuellen. Ich habe das mit einer Mischung aus Ironie und Neugierde gelesen. Aber ich wusste nicht, was das in mir auslösen würde. Das war so schlau geschrieben, dass ich als Christ und als Homosexueller dachte: Irgendwie kann ich mich mit dem identifizieren.

Wie ging es dann weiter für dich?

Es begann ganz langsam eine depressive Phase. Mein vorheriger Schutzmechanismus, der alles unterdrückt hat, funktionierte nicht mehr richtig. Ich wusste nicht mehr, warum ich plötzlich so viel fühlte. Warum ich plötzlich so viel Schmerz fühlte. Ich projizierte das so lange auf meinen Freund, bis er es nicht mehr aushielt und mit mir Schluss machte. Damit ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Er hat mich damals ja auch durch die Flucht begleitet. Das war sehr schlimm.

Zuflucht fand ich dann dort, wo ich früher viel Halt bekommen hatte: in der Religion. Ich fuhr zurück nach Dortmund zu der Familie meiner Mutter. Da gehört auch mein Großcousin mit seiner Frau und Kindern dazu. Sie haben sich dort ein Haus gebaut, das sie ihre Kirche nennen. Meine Mutter war natürlich überglücklich darüber.

Ich habe gedacht, dass der Teufel in meiner Beziehung war.

Du bist da also freiwillig hingefahren?

Natürlich wäre es einfacher zu sagen, dass ich auf eine Art gezwungen wurde. Meine Mutter hatte mir so oft vorgeschlagen, zum Priester zu gehen. Meine Familie hatte so oft suggeriert, dass ich ein sündenvolles Leben führe. Aber den Entschluss, nach Dortmund zu fahren, habe ich trotzdem alleine getroffen.

Was hast du auf dem Weg gedacht?

Ich wollte Antworten. Ich redete mir oft ein, dass der Teufel in meiner letzten Beziehung war und sie deswegen von Anfang an nicht funktionieren konnte. Ich wollte Gott nahe kommen. Ich wollte wissen, warum ich so tief gefallen bin. Ob es tatsächlich stimmt, dass eine homosexuelle Beziehung nie funktionieren kann und ich deswegen so viel Leid ertragen muss. Ich wollte einfach mit einem guten Gefühl da wieder wegkommen.

Wie lange warst du da und was ist dann passiert?

Zwei Nächte. Am ersten Tag nahm mich mein Großcousin mit in die Gemeinde. Mithilfe eines Rituals sollte er vom Stottern erlöst werden. Ich musste nicht mitmachen, aber ich habe in diesem Moment nicht reflektiert und kam einfach mit. Ich wusste nicht, dass das so ziemlich das Schlimmste war, das ich mir antun konnte.

Der Gemeindeälteste war da. Auch Mitglieder aus Bochum, die professionelle Geisteraustreibungen vollziehen. Wir setzten uns in einem Kreis um meinen Cousin. Wir fingen an zu beten. Ich betete nur das Vater unser, weil ich nichts anderes konnte. Die anderen redeten in Zungen (Anm. d. R.: unverständliches Reden in Gebeten, im neuen Testament wird es als eine sogenannte Gnadengabe Gottes verstanden). Das ist ziemlich verrückt, ich kann das bis heute nicht richtig beschreiben. Es wurde immer lauter und lauter. Eine Frau begann, ein Lied zu singen. Und mein Cousin, der eigentlich ein sehr schüchterner Mensch ist, fing plötzlich an, unfassbar zu schreien. Mit einer extrem tiefen Stimme, als wäre es eine andere. Und er hat sich auch verrenkt dabei, als hätte er Schmerzen. Es wurde immer noch lauter. Für mich war es richtig schlimm anzusehen und anzuhören.

Das ging eine halbe Stunde. Der Gemeindeführer hat ihn dann beruhigt. In einer zweiten Runde wiederholten wir alles. Jeder hat in Zungen gebetet. Wir haben unsere Hände auf seinen Rücken und Kopf gelegt, er hat schwer geatmet und wie verrückt geschrien. Dieses Mal ist er sogar hochgesprungen. Das war nicht von dieser Welt.

Wie lange bist du geblieben?

Ich hatte sofort das Gefühl, da wegzumüssen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Es war alles so surreal. Ich hatte aber auch Angst, ihnen zu sagen, dass ich nicht mehr dabei sein möchte. Also bin ich am nächsten Tag wieder in die Kirche zurück. Ich kam in den Raum rein und alle Augen waren auf mich gerichtet. Es war klar, dass sie alles wissen. Die ganze Gemeinde war wieder da. Ich habe mich dazugesetzt, sie haben gesungen. Ich dachte, wenn ich alles ganz schnell hinter mich bringe, bin ich auch bald wieder zu Hause. Irgendwann sagte der Leiter: "Und für dich beten wir auch, Wladimir!"

Was war das für ein Gebet?

Es war dieselbe Austreibung wie bei meinem Cousin am Tag davor. Ich wurde nach vorne geholt, sollte mich auf die Knie setzen und meine Augen schließen. Hinter mir ging es dann schon los: Sie beteten in Zungen, fingen an zu schreien und zu weinen. Richtig furchtbar zu weinen. Ich spürte, wie Hände auf meinen Rücken und meinen Kopf gelegt wurden. Der Gemeindeleiter malte mit einer Salbe ein Kreuz auf meine Stirn. Ich dachte mir nur: Bitte, Gott, wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit in dem Ganzen steckt, gib mir irgendein Zeichen. Aber es kam nichts. Es war dunkel, wie vorher. Es war nichts. Irgendwann wurden sie leiser, nahmen ihre Hände weg und beruhigten sich. Das wars. Es gab kein großes Zeichen und es gab auch nichts, was mir irgendwie das Gefühl gegeben hätte, dass das richtig war.

Hattest du die Hoffnung, dass es funktioniert?

Irgendwo schon, ja. Es war ja zuvor immer so, dass ich dort gebetet habe, nicht homosexuell zu sein. Ich wollte wieder ein guter Christ sein, ich fühlte mich unglaublich schuldig. Alle Erfahrungen mit Männern machte ich heimlich, nur meine besten Freunde wusste Bescheid. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich Gott gegenüber etwas falsch gemacht habe. Ich hatte diese Hoffnung, sonst wäre ich nicht nach Dortmund gefahren.

Wie ging es dir danach?

Wir fuhren danach nach Hause, ich war echt müde. In der Nacht hatte ich einen sehr symbolischen Traum: Ich brachte zwei Türme zum Einsturz. Einer war aus dem Hass meines Vater, der andere aus dem Hass von der Kirche gebaut. Nachdem sie zusammengefallen waren, fühlte ich mich unglaublich frei. Als ich aufwachte, musste ich unfassbar weinen.

Wann hast du realisiert, dass dir etwas Unrechtes passiert ist?

Als mein ganzes Lügenkonstrukt zusammengebrochen ist. Ich hatte meinen Eltern nie von der Situation in der Kirche erzählt oder dass mein erster Freund Schluss gemacht hat. Ich habe einfach getan, als wäre alles okay. Ich habe nie gezeigt, wie es mir selber ging, weil ich es selber nicht richtig wusste. Außerdem hatte ich Angst, sie würden glauben, dass es für mich jetzt doch eine Chance auf ein heterosexuelles Leben gibt.

Ich konnte nicht mehr richtig kommunizieren, am Ende weinte ich nur noch. Ich nahm innerhalb kürzester Zeit fast zehn Kilo ab, mir passte einfach keine Hose mehr. Ich war in einem sehr labilen Zustand. Als mich meine Mutter wieder sah, ist sie richtig erschrocken. Unter vielen Tränen erzählte ich ihr daraufhin alles. Erst dann realisiert ich, dass meine Familie schuld war, dass ich überhaupt nach Dortmund gefahren bin. Hätte ich nur einmal das Gefühl bekommen, dass alles okay mit mir ist, sie mich akzeptieren und ich mich nicht schämen müsste, dann wäre ich da niemals hin.

Wie konntest du das alles verarbeiten?

Das konnte ich eine ganze Weile nicht, es war einfach viel zu viel. Ich habe mehrere Jahre gebraucht. Mittlerweile kann ich darüber reden. Ich hab eine Gesprächstherapie angefangen. Ich habe gelernt, dass es menschlich ist, so etwas Unmenschliches nicht verkraften zu können. Und dass ich mich nie wieder für etwas schuldig will, für das ich mich nicht schuldig fühlen muss. Über mehrere  Etappen und Beziehungen wurde ich langsam selbstbewusster. In manchen Momenten fühle ich mich immer noch enorm unsicher.

Wie ist die Beziehung zu deiner Familie heute?

Meine Mutter brach irgendwann den Kontakt zu der Familie in Dortmund ab. Ich lernte auch wieder, meinen Vater für das zu lieben, was er ist und was uns verbindet. Auch wenn ich im Hinterkopf habe, dass er mich umbringen wollte. Dass ich heute so denken kann, verdanke ich einem unfassbar langen Prozess, der mich viel Kraft kostete.

*Namen und Städte wurden auf Wladimirs Wunsch anonymisiert

Außerdem auf ze.tt: Out Now! #1 – Wie Tugay versuchte, seine Homosexualität wegzubeten