"Oh Gott, die sitzen am Kottbusser Tor?" Meinem Vater hört man seinen Gräuel an, die Abneigung tropft aus meinem Handy. Es geht um eine Filmproduktion, die ihre Büros unweit des Kottis betreibt – ich soll gleich zu einem Treffen vorbeischauen und bin in der Bahn.

"Sei bloß vorsichtig, das ist ein Moloch da", sagt mein Vater, "die ganzen Kaschemmen und Rauschgiftsüchtigen – widerlich. Also da würde ich ja im Leben nicht …" – "Papa." – "Was denn?" – "Ich bin schon groß und außerdem bin ich da öfter, bislang wurde ich noch nicht gemeuchelt oder spontan cracksüchtig."

Generationenkonflikt. Das Areal um den U-Bahnhof Kottbusser Tor ist tatsächlich ein bizarres Potpourri. Türkischer Supermarkt, queere Bar, Dönerbude, Styling-Agentur, Friseur*innensalon, Späti, Rossmann, Rewe. Gangster trifft Expat. Junkies, Agentur-Kontakter*innen und Senior*innen – alles mit dabei. Heute wird der Kreisverkehr um den Hochbahnhof gerne als Symbol für die drogenverseuchte und sehr gefährliche Hauptstadt benutzt.

Wenn bei RTL mal wieder schockierende Dokus über Berlin gesendet werden, wird der Kotti erwähnt. Serien wurden hier gedreht. Zum Beispiel der amerikanische Agentenbums Berlin Station oder das Gangster*innen-Epos 4 Blocks. Sicherlich ist allen die safrangelbe einfahrende U-Bahn auf den Hochgleisen bekannt – man sieht sie in Musikvideos, Werbespots und sogar in Pornos. Dit is Berlin.

Kottbusser Tor mit K oder C?

Tatsächlich befand sich im 18. Jahrhundert an der Stelle des heutigen Platzes ein Stadttor, das nach Cottbus führte. Funfact für Rechtschreibnerds: Über die Jahrhunderte änderte sich die Schreibweise des Tors stetig. Von Cottbusserthor über Cottbuser Thor, Cottbuser Tor und Kottbuser Tor zu Kottbusser Tor im Jahr 1930. Warum jetzt Kottbusser Tor anders geschrieben wird als die Stadt Cottbus … keine Ahnung. Könnte man ja mal googeln. Ist mir jetzt zu kompliziert. (Anm. d. Red.: Liebe Jurassica, wir haben gegoogelt und etwa diesen MOZ-Artikel entdeckt, in dem der Frage nachgegangen wird; offenbar rührt die Differenz in der Schreibweise daher, dass sich auch Cottbus lange Zeit nicht entscheiden konnte, wie man die Stadt denn nun korrekt schreibt.)

In den 1950er- bis 1970er-Jahren des letzten Jahrhunderts wichen die zerbombten Gründerzeitbauten diversen Neubauprojekten. Der Kotti ist umrahmt von Hochhäusern. Heute hätte man das vielleicht weniger brutal gebaut. Aber heute wären da auch nur Eigentumswohnungen drin, als Investmentobjekte für reiche Menschen. Unbewohnt und viel wert. Dann doch lieber die Hochhäuser. Zur Nordseite gibt es einen Wohnblock, der die Adalbertstraße überspannt, das NKZ (Neues Kreuzberger Zentrum).

Funfact für Stadtplanungsnerds: Der Damm wurde eigentlich als Schallschutz für ein geplantes Autobahnkreuz gebaut. Wurde nie realisiert. In den 1960ern liebte man die autogerechten Städte mit ihren Trassen, Brücken und breiten Dämmen. In Berlin gibt es den Innsbrucker Platz, da brauchst du als Fußgänger*in ewig, um den zu überqueren.

Abstandsregelung in Corona-Zeiten ist hier irrelevant

Aber zurück zum Kotti. Ich steige aus der Bahn und sehe, wie ein Mann im Anzug – offensichtlich besoffen und druff – seinen Schwanz rausholt und in einen Mülleimer pisst. Der kommt sicherlich von einer Festivität, es ist neun Uhr morgens. Ich bin in Berlin geboren, aber tatsächlich gibt es immer noch die Momente, die mich irritieren. Eine Frau mit vermutlich türkischem Migrationshintergrund passiert den Mann eilig mit drei Kindern. Guten Morgen! Ich verlasse den Bahnhof über den Ausgang zur Reichenberger Straße.

Die so betitelte "Drogenszene" tummelt sich hier seit Jahrzehnten. Da findest du immer eine große Gruppe von Männern und Frauen, die morgens um neun mit dem ersten Bier in der Hand den Tag starten – sie warten auf die Dealer. Kaufen, konsumieren, plappern, konsumieren. Abstandsregelung in Corona-Zeiten ist hier irrelevant. Wenn ich ehrlich bin, es fällt mir manchmal schwer, nicht die Nase zu rümpfen. Größtenteils sind das richtig kaputte, arme Schweine. Leere, druffe Augen, gebeugte Haltung, Bandagen um die Handgelenke und Füße. Euphorisch aufgepeppt durch Chemie. Fast alle Hauseingänge sind mit Gittern versehen, damit dort niemand sein Lager aufschlägt. Für 'nen Schuss. Unweit gibt es einen kleinen Park, dort wird viel gespritzt, ich hab dort schon alles gesehen.

Andererseits tummelt sich um den Kotti die Neuberliner Kreativbranche. Es eröffnen unzählige Co-Working-Spaces, die von englischsprachigen, modern angezogenen Mittzwanzigern benutzt werden. Crop-Tops, Schnurrbärte, Buffalos. Mal schnell beim veganen Lunch mit Jason und Sophia meeten. Machen wir uns nichts vor: die nehmen auch alle Drogen. Allerdings sind Koks, MDMA und Mephedron in dieser Lebenswelt schick. Ich weiß, ich bin zynisch.

Am Kotti gibt es zudem eine große türkisch- und arabischstämmige Community. Schon immer. Ein Döner am nächsten. Gemüseladen, Herrenfriseur, Teestube, Hochzeitskleider. Alte Männer sitzen auf Bänken und bearbeiten schnatternd ihre Gebetsketten. Tatsächlich jagt hier ein Klischee das nächste, es ist amüsant.

Dit is Berlin

Mein Vater ist immer noch am Telefon. Mir wird jetzt bewusst, dass für ihn und seine Lebenswelt im beschaulichen Rudow der Kotti wirklich verstörend sein muss. Ich finde seine Einfamilienhausgegend mit ihren Garagen und Vorgärten aber genauso verstörend. Das ist nämlich auch Berlin! Diese Stadt ist so vielfältig, da sind RTL und Bild einfach überfordert.

"Na gut, ich muss dann mal das Beet vorne neu bepflanzen, du weißt doch. Mama möchte dort Lavendel haben", sagt mein Vater, "und wenn dich da einer antanzt am Kotti … denk dran, die Geldbörse immer nah am Körper tragen!" – "Alles klar, grüß Mama lieb von mir und bis bald."

Ich muss auch Schluss machen, gerade brüllt ein Druffi eine Passantin an und lacht irre. Wahrscheinlich Crack. Hier liegen viele Alufolienstücke rum. Dit is Berlin.

Außerdem auf ze.tt: Keine U-Bahnlinie ist so sehr Berlin wie die U8