Überforderung, Unterversorgung, politisches Versagen, Behandlungsfehler: Das Image der Pflege ist geprägt von Horrorstorys. Doch es gibt auch schöne Geschichten aus dem Alltag im Gesundheitswesen. Menschen in Pflegeberufen erzählen von unvergesslichen Erlebnissen, die sie besonders berührt haben.

Sarah J. aus Hessen ist ist 22 und hat soeben ihre Ausbildung zur examinierten Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin abgeschlossen. Eigentlich, so schreibt sie mir, wollte sie Medizin studieren, aber ihr Abi sei mit 2,1 nicht gut genug gewesen. Dass sie in der Säuglingspflege gelandet sei, war reiner Zufall. Aber ein guter, wie sie selbst sagt: "Ich würde mich jederzeit wieder für diese Ausbildung entscheiden. Sie hat mich nicht nur in meinem Fachwissen, sondern auch menschlich extrem weitergebracht."

Sarah wünscht sich, dass Schüler*innen während der Berufsorientierung in der Oberstufe nicht nur hauptsächlich Studiengänge, sondern auch mehr Ausbildungsberufe kennenlernen würden: "Dass ein Ausbildungsberuf mit einer derartig gesellschaftlichen Wichtigkeit und kognitiven Anforderung gänzlich unerwähnt bleibt – selbst in seiner akademischsten Form –, ich finde, da müsste mehr Aufklärung und Berufsvorstellung laufen."

Im Oktober fängt Sarah fest auf der Kinderintensivstation an, versorgt dort auch Frühgeborene. Was daran anspruchsvoll ist, erklärt sie mit einem Einblick in den Arbeitsalltag: "Ich muss das Kind wickeln und dabei darauf achten, ob die Haut intakt ist; den Eltern zeigen, welche Griffe beim Wickeln entwicklungsfördernd und stressreduzierend sind. Ich muss schauen, ob das Frühgeborene seine Temperatur hält – ist es zu warm, weil die Wärmezufuhr zu hoch ist, oder hat es wirklich Fieber? Es geht nämlich nicht nur ums Kuscheln, Füttern, Wickeln und Beschäftigen, sondern um konzentriertes, sicheres Arbeiten am Menschen mit immensem Hintergrundwissen, das stetig erweitert werden muss."

Als ich sie nach ihren schönen und positiven Erfahrungen ihres Arbeitsalltags frage, erzählt sie mir die Geschichte von Baby Max*.

Balance zwischen Abgrund und Freude

"Max wurde am 12. Januar bei uns geboren. Leider verlief die Versorgung nach der Geburt mit allen vorstellbaren intensivmedizinischen Maßnahmen, denn Max hatte unter Geburt einen gefährlichen Sauerstoffmangel, auch Asphyxie genannt, erlitten.

Es wurde relativ schnell mit einer Behandlung begonnen, bei der Max' Körper um ein paar Grad heruntergekühlt wurde, um ihm eine Regeneration von dem Ereignis zu ermöglichen. Eine Prognose war zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Für die Eltern brach eine Welt zusammen. Sie mussten von jeder Seite aufgefangen werden; die Ärzte und Ärztinnen standen jederzeit für medizinische Fragen bereit, die Elternberatung wurde eingeschaltet.

Ich tröstete die Mama, die in Tränen ausbrach, als sie zum ersten Mal ihren kleinen Sohn auf der nackten Brust kuscheln durfte.
Sarah

Meine Bezugsschwester und ich stellten den Kontakt zwischen den Eltern und Max her. Diese wortwörtlich intensive Zeit und das Bangen mit dem Eltern war ein Balanceakt zwischen Abgrund und Freude.

Am Anfang ermutigten wir sie, ihren Sohn zu berühren und erklärten jeden einzelnen Schritt während der Versorgung. Ich war dabei, als Max wach wurde und die Eltern ihn zum ersten Mal schreien hörten. Ich beobachtete, wie Max die ersten Male auf die Berührungen und Stimmen von Mama und Papa reagierte. Das waren die ersten wahrhaftigen Lebenszeichen, die die Eltern von ihrem Sohn erleben durften – nach drei qualvollen Tagen. Die Freude dabei überwältigte uns alle.

Max' Zustand verbesserte sich stetig und ich durfte die Eltern anleiten, wie sie ihn wickeln, Temperatur bei ihm messen oder ihm über seine Magensonde die abgepumpte Muttermilch verabreichen können. Ich tröstete die Mama, die in Tränen ausbrach, als sie zum ersten Mal ihren kleinen Sohn auf der nackten Brust kuscheln durfte und unterstützte sie dabei, Max das erste Mal zu stillen.

So wurde aus Max' Eltern, die sich zu Beginn kaum getraut hatten, ihren Sohn überhaupt nur zu berühren, Schritt für Schritt eine Mama und ein Papa, die ihr Kind selbstständig versorgen, stillen und pflegen konnten.

Da habe ich realisiert: Deine Arbeit kommt an. Nicht nur objektiv beim Gesundheitszustand, sondern auch in den Herzen.
Sarah

Sicherlich saß der Schock noch tief und auch die bleibende Ungewissheit über den konkreten Verlauf von Max' Entwicklung ist weiter eine große Belastung für die Eltern. Aber durch unsere Hilfe konnten sie einen Umgang damit finden, die Trennung direkt nach der Geburt durch liebevolle Nähe ersetzen und die Eltern-Kind-Beziehung aufbauen.

Max kam dann auf die Säuglingsstation, nach zwei Wochen konnte er entlassen werden. An diesem Tag hatte ich einen stressigen Frühdienst. Seine Eltern kamen zu mir auf Station, bedankten sich persönlich und ermutigten mich, nach meinem Examen auf die Intensivstation zu gehen. Es gab Freudentränen und eine Umarmung. ,Bei jedem Geburtstag von Max werden wir an dich denken' – die schönsten Worte, die ich bis dahin hören durfte. Da habe ich realisiert: Deine Arbeit kommt an. Nicht nur objektiv beim Gesundheitszustand, sondern auch in den Herzen."

Pflege: Demut vor dem Leben

Die Geschichte mit Baby Max und seinen Eltern habe ihr deutlich gemacht, was im Leben wirklich zähle, sagt Sarah: "Sie hat mir gezeigt, was man in diesem Beruf besonders vor Augen gehalten bekommt: Demut vor dem Leben. Wir alle leben in der Illusion, Träume und Wünsche auf morgen verschieben zu können und sind viel zu selten achtsam. Aber in solchen Momenten lernt man, wie schnell das Leben eine 180-Gradwendung nehmen kann und wie besonders jeder Moment ist, in dem man selbst und die Familie gesund ist."

Ihren Beruf in der Pflege würde Sarah trotz der ganzen Umstände durch Personalmangel und Pflegenotstand wieder wählen: "Ich möchte in meinem zukünftigen Job Teil dieses funktionierenden Teams sein, das sich ganz schnell in fordernden Situationen wiederfindet und gemeinsam Lösungen findet."

*Name geändert