Eine Zunge ist nichts anderes als ein mit Schleimhaut überzogener Muskel. Er hilft uns beim Schlucken, Schmecken und Sprechen, und manchmal verspeisen wir den vom Kalb im Restaurant, weil manche das lecker finden. Die Zungen anderer Menschen finden wir wiederum irgendwie sexy.

Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens durchschnittlich 20.000 Minuten (zwei Wochen) damit verbringen, jemanden zu küssen. Wahlweise mit Zunge. Dabei beanspruchen wir 146 Muskeln. Klingt erst mal gut. Aber bei jedem Kuss tauschen ungefähr 80 Millionen neue Bakterien aus. Klingt weniger gut. Wenn wir Lust und Romantik aus der Gleichung nehmen, bleibt etwas recht Groteskes übrig: zwei Menschen, die sich gegenseitig die Zungen massieren – nicht mit den Händen, sondern mit ihren eigenen Zungen, indem sie ihre geöffneten Mundlöcher aneinanderdrücken. Ja, das klingt nicht gerade schmackhaft, aber genau das tun wir. Und wir tun es gerne.

Küssende Menschen sind in der Minderheit

So normal, wie es den meisten vorkommen mag, ist das Küssen allerdings nicht. In einigen Kulturen wird es gar nicht praktiziert, manche finden es sogar abstoßend. Laut einer Studie, die im Jahr 2015 im American Anthropologist veröffentlicht wurde, nutzen weniger als die Hälfte aller Gesellschaften das Küssen, um sexuelles Verlangen auszudrücken – das sind 46 Prozent von 168 untersuchten Kulturen weltweit. Während der romantische Kuss im Nahen Osten zur Norm gehört (100 Prozent), praktizieren ihn 73 Prozent der untersuchten asiatischen Kulturen. In Europa sind es 70 Prozent, in Nordamerika nur 55 Prozent.

Viele lokale Gemeinschaften und indigene Völker, die sich nach wie vor durch Jagen und Sammeln ernähren, ist der romantische Speichelaustausch laut der Studie völlig fremd. Der Mehinako-Stamm in Brasilien findet das Knutschen nach eigenen Angaben sogar ekelhaft. Der Mensch führte die meiste Zeit ein Nomadenleben, erst vor etwa 10.000 Jahren wurde er sesshaft. Wenn also die heutigen Jäger-Sammler-Gruppen das Küssen nicht praktizieren, liegt der Umkehrschluss nahe, dass unsere Vorfahren es ebenso wenig taten. Für den Anthropologen und Hauptautor der Studie, William Jankowiak von der University of Nevada, ist das Beweis genug, Küssen als angelerntes Verhalten einzuordnen. Eine Erfindung westlicher Gesellschaften, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Die Wissenschaftler*innen fanden zudem heraus, dass Küssen von den sozialen Hierarchieverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft abhängig ist. Je komplexer eine Gesellschaft, desto häufiger werde geküsst. Woher dieses Verlangen kommt, wissen die Wissenschaftler*innen um Jankowiak nicht. Sie können aber zumindest ausschließen, dass es genetisch bedingt ist. Woher haben wir das Küssen also?

Küssende Tiere

Unsere engsten Verwandten sind die Schimpansen und Bonobos, ihr Erbgut unterscheidet sich von unserem um etwa 1,3 Prozent. Von Schimpansen ist bekannt, dass sie sich nach Konflikten umarmen und auch gerne mal anlippen. Für sie ist das laut der aktuellen Forschung eine Art Versöhnung und unter den Männchen üblicher als unter den Weibchen. Anders gesagt: Küssen ist für sie keine romantische Tätigkeit. Bonobos hingegen sind in ihrem sexuellen Verhalten dem Menschen sehr viel ähnlicher. Sie sind die einzigen nicht-menschlichen Primaten, die Sex in verschiedenen Stellungen haben, auch face-to-face. Gelegentlich haben sie sogar Oralverkehr – und sie küssen sich mit Zunge.

Im Gegensatz zum Menschen hat jedoch auch dieses Verhalten keinen besonders romantischen Hintergrund. Denn für Bonobos ist Sex eine herzliche Begrüßung oder ein Weg, um Spannungen abzubauen. Wenn sich zwei Menschen zum ersten Mal treffen, schütteln sie sich die Hände – Bonobos haben Sex.

Abgesehen von diesen Ausnahmen sind bisher keine Tierarten bekannt, die sich küssen. Eventuell liebkosen oder streicheln sie sich, berühren Gesichter oder umarmen sich. Aber sie unternehmen keinen romantischen Speichelaustausch so wie der Homo sapiens.

Informatives Küssen

Wenn es nicht evolutionsbedingt ist, was bringt uns das Küssen dann? Im Rahmen einer 2013 veröffentlichten Studie fanden Experimentalpsychologen der University of Oxford heraus, dass das romantische Küssen wichtige Funktionen in Beziehungen hat. Durch einen Kuss lernen wir unser Gegenüber im wahrsten Sinne des Wortes schmecken und riechen. Mit Mund und Nase nehmen wir Pheromone und andere chemische Signale wahr. Sie helfen uns unterbewusst einzuschätzen, ob die andere Person gesund und fruchtbar ist. Der Kuss hilft uns demnach potenzielle Partner*innen einzuschätzen.

Darüber hinaus legen besonders attraktive und begehrenswerte Menschen großen Wert auf das Küssen. Aufgrund ihrer hohen Ansprüche ist es für ihre Partner*innen-Wahl wichtig, wie die andere Person küsst, ergab die Studie. Dieselben Testpersonen haben nach einem Kuss auch schon mal ihre Meinung geändert.

Die Wissenschaftler*innen belegten in einer anderen Studie, dass sich vor allem Frauen während ihrer fruchtbaren Tage das Küssen zunutze machen. Für sie ist ein Kuss noch wichtiger für die Partner*innen-Wahl.

So schön sich Küssen für uns auch anfühlt, wir gebrauchen es für etwas, das gar nicht sexy klingt: die biologische Kompatibilitäts- und Gesundheitsmessung. Der Speicheltausch erlaubt es uns, in Windeseile eine riesige Menge an genetischer Information durchzuschmecken. Dabei suchen wir nach einer DNA, die sich von der eigenen möglichst viel unterschiedet. Das hebt nämlich die Chancen, ein gesundes Kind zu bekommen – und das ist nun mal immer noch unsere biologische Hauptaufgabe.