Es ist Nacht. Ich war gerade mit meinen Freund*innen aus. Wir lachen noch gemeinsam auf dem Heimweg, dann verabschiede ich mich. Schnell stecke ich meine Kopfhörer in die Ohren, höre Musik und blende die Umwelt aus. Ich spüre fremde Blicke und wende meinen eigenen ab. Ich höre, dass mich jemand anspricht, doch ich gehe einfach weiter. Er wird lauter und brüllt mir etwas hinterher. Ich werde etwas schneller, tue aber so, als würde ich ihn nicht hören. Meine Beunruhigung möchte ich mir nicht anmerken lassen.

So oder so ähnlich ist es mir schon unzählige Male ergangen. Das Szenario kennen viele Frauen allzu gut. Im Dunkeln allein unterwegs zu sein, wird für uns schnell zum Spießrutenlauf. Selbst tagsüber kann frau manchen Kommentaren nicht aus dem Weg gehen. Wir werden mit "Hey Süße" angesprochen, angepfiffen, manchmal sogar katzenartig anmiaut. Dabei ist das Aussehen und die Kleidung meist ziemlich egal. Es geht vor allem um Macht und Ego. Besonders häufig sind es kleinere Männergruppen, in denen mann sich gegenseitig etwas beweisen muss.

Entscheidet frau sich dafür, einen Kommentar nicht zu beachten und weiterzugehen, kann es schnell ungemütlich werden. Schließlich wurde unsere Aufmerksamkeit eingefordert – und wir haben uns einfach dazu entschlossen, es zu ignorieren. Beleidigungen, Verfolgungen und andere verzweifelte Versuche folgen, um unsere Aufmerksamkeit doch noch zu erhaschen. Oder wir hören die achselzuckende Bemerkung: "Ich wollte doch nur freundlich sein". Weil frau einfach unfreundlich ist, wenn sie keine Lust hat, sich von jedem x-beliebigen Mann ansprechen zu lassen.

Dass das für viele Frauen Normalität ist, will nicht jeder wahrhaben. Der französische FilmemacherMaxime Gaudet hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, das Gefühl zu vermitteln, das Frauen in solchen Momenten haben. Mit dem Kurzfilm Au bout de la rue ("Am Ende der Straße") hat er in drei Minuten eingefangen, wie sich eine junge Frau in dieser Situation fühlt.

Die Protagonistin in Gaudets Film läuft allein durch die dunklen Straßen. Sie wird von einem Mann angesprochen. Nachdem sie nicht darauf reagiert, verfolgt er sie und beschimpft sie lautstark. Die junge Frau atmet immer schwerer und läuft schnell weiter, vorbei an anderen Männern. Sie fühlt sich gehetzt. Als sie endlich bei ihrem Freund ankommt, atmet sie im Flur tief durch. In der Wohnung angekommen, sagt sie nichts. Sie hört sich an, was er für einen Scheißtag hatte.

Gaudet wollte das Problem so realistisch und kalt wie möglich darstellen. Anlass für den Film war ein Bauarbeiter, der Gaudets Freundin und ihre Mutter in seinem Beisein beschimpft hat, nur um sich danach wieder ganz in Ruhe seiner Arbeit zu widmen. "Es ist für mich unglaublich, dass so etwas allen Frauen passieren kann, zu jeder Zeit, an jedem Ort, von jedem Mann, und dass es dermaßen normal geworden ist, dass es niemand mehr beachtet", sagt Gaudet, als ich ihn nach seinen Beweggründen frage.

Für den Film hat er sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, Artikel und Zeugenberichte gelesen. Es sei schwierig, das Gefühl der Belästigung in Worte zu fassen: "Wenn du so etwas erzählst, kann die Person dir gegenüber immer sagen ‘Naja, aber dir ist ja nichts passiert’. Aber mit dem Kurzfilm hoffe ich, dass einige Männer sich der Konsequenzen ihrer Belästigungen bewusst werden und darüber, wie es ist, von einem Fremden auf der Straße beleidigt und verfolgt zu werden."