In Istanbul hat sich Anfang des letzten Jahrhunderts eine Szenesprache entwickelt, die Menschen im Rotlichtmilieu schützen sollte. Sexarbeit war weitgehend illegal, und mit Hilfe von Lubunca konnten sich Sexarbeiter*innen bei Gesprächen über die Arbeit tarnen. Wörter aus dem Romani, dem Griechischen, Armenischen, Französischen und Türkischen wurden dabei gemischt.

Nicholas Kontovas ist Sprachwissenschaftler und forscht an der Universität Leiden. ze.tt hat mit ihm über die Szenesprache und ihre heutige Bedeutung gesprochen.

ze.tt: Nicholas, du hast dazu geforscht, wie die Geheimsprache Lubunca entstanden ist. Wer hat sie erfunden?

Nicholas Kontovas: Lubunca (gesprochen: Lubundscha) kommt aus dem Rotlichtmilieu Istanbuls. Es entstand Anfang des 20. Jahrhunderts unter Sexarbeiter*innen, die illegal tätig waren. Das waren vor allem Menschen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden, also Roma und Angehörige der griechischen, der armenischen und anderer Minderheiten. Sie wurden aus vielen Berufen ausgeschlossen und gingen zur Sexarbeit über. In diesem Umfeld arbeiteten auch viele Männer und

Transfrauen, denen die Sexarbeit verboten wurde. Besonders Transfrauen hatten wenige Möglichkeiten, anders Geld zu verdienen. Die Sexarbeiter*innen brauchten eine geheime Sprache, um sich zu schützen. Also mischten sie ihr Türkisch mit den Sprachen der Minderheiten. Sie nahmen Wörter aus dem Romani, dem Griechischen und dem Armenischen. Einige französische Wörter kamen auch dazu sowie viele türkische Wörter mit veränderter Bedeutung. So entstand eine Szenesprache, die wir heute Lubunca nennen. Die Minderheitensprachen, aus denen Lubunca besteht, spricht im heutigen Istanbul kaum noch jemand.

Und Lubunca selbst?

Lubunca hat sich in der queeren Community verbreitet. Die Kerngruppe, die am flüssigsten spricht, bilden nach wie vor trans Sexarbeiter*innen. Auch in anderen türkischen Städten gibt es jetzt Menschen, die Lubunca sprechen. Aber außerhalb von queeren und aktivistischen Kreisen wissen die wenigsten, dass es Lubunca überhaupt gibt.

Also ist es noch eine Geheimsprache?

Heute ist Geheimhaltung nicht mehr ganz so wichtig wie früher. Viele Ausdrücke beginnen als Insiderwitze, dann werden sie in der Szene weitergegeben. So bleibt die Sprache einigermaßen geheim. Damit das auch in der Zukunft so ist, muss Lubunca sich ständig wandeln. Kreativität ist wichtig und es kommen laufend neue Wörter dazu. Außerdem gibt es einen Kernwortschatz, der sehr alt ist. Wenn jemand diese Wörter benutzt, weiß ich: Aha, das ist Lubunca.

Zum Beispiel?

Koli, das heißt Sex und kommt vielleicht von dem Romani Wort für Brust. Oder gacı, das kommt direkt von dem Romani Wort für eine nicht Roma Frau. Auf Lubunca heißt es Frau oder Transfrau. Solche Klassiker verstehen mittlerweile schon mehr Leute. Trotzdem verwendet man sie noch.

Wann benutzt man denn Lubunca?

Lubunca benutzt man nicht für jedes Thema. Man kann tolle Witze damit reißen, aber ernste Unterhaltungen würde man eher nicht auf Lubunca führen. Das funktioniert vom Wortschatz her auch nicht. Am besten kann man über Sex, Geld, Rauchen und Drogen sprechen. Wenn jemand von gängigem Türkisch zu Lubunca wechselt, ändern sich nicht nur die Wörter, auch die Intonation ist anders. Normales Türkisch mit ein paar Lubunca Wörtern klingt nicht authentisch. Lubunca sprechen ist wie eine Performance.

Ein eigener Dialekt, den sonst niemand versteht – grenzt das queere Menschen nicht aus?

Nein, das behaupten Leute, für die normal zu sein das Ziel der Schwulenbewegung ist. Sie denken, dass Lubunca sie daran hindert, weil es von manchen als unhöflich oder anzüglich empfunden wird. Ich finde, wenn du es nicht benutzen willst, dann benutze es nicht. Lubunca ist ein Zeichen queerer Identität und gibt der Community ein Zugehörigkeitsgefühl. Es ist gut, dass die Gesellschaft sich nach und nach für LGBTQ-Personen öffnet. Damit sinkt auch der Bedarf für eine Geheimsprache. Vielleicht führen solche positiven Entwicklungen eines Tages dazu, dass Lubunca vergessen wird. Aber Teil des Problems ist Lubunca auf keinen Fall.